Ein Sieg für den Kontinuitäts-Kandidaten

Die Wahlen an diesem Sonntag in Argentinien sind gelaufen. Wenigstens, wenn man sich den Durchschnitt und Trends aller Umfragen der letzten Zeit anschaut, wie es der Politologe Andy Tow in seinem Blog gemacht hat (die Sektion hat er treffenderweise gleich „Kaffesatz“ genannt). Seine Voraussage: Der Kandidat der Königin, Daniel Scioli, bisher Gouverneur der Provinz Buenos Aires, wird in der ersten Runde die Präsidentschaftswahlen gewinnen.

Gewinner (?) Daniel Scioli

Gewinner (?) Daniel Scioli

Dafür muss er entweder 45% aller Stimmen holen (unwahrscheinlich, die Umfragen sagen ihm rund 40% voraus) oder 40% und mindestens 10% Vorsprung auf den Zweitplatzierten (aller Voraussicht nach der bisherige Bürgermeister der Hauptstadt, Mauricio Macri) – und das ist ein knappes Rennen. Macri selbst hat bei den Vorwahlen im August nur 24% geholt, seine Wahlplattform Cambiemos allerdings knapp über 30%. Die Frage ist: kann er die Wähler seiner Mitkandidaten von sich überzeugen oder laufen diese zu einem anderen Bewerber über? Favorit Scioli hingegen erzielte nur 36% in den Vorwahlen, hat seither in den Umfragen jedoch deutlich zugelegt und kommt derzeit immer knapp über oder unter 40%.

Da die Umfragen in der Regel telefonisch durchgeführt werden, so die Argumentation von Tow, sind marginalisierte Bewohner von Elendsvierteln oder abgeschiedenen ländlichen Regionen darin meist unterrepräsentiert. Dies sei jedoch die klassische Wählerklientel von Scioli, der daher in den eigentlichen Wahlen voraussichtlich besser abschneiden werde. Umgekehrt Macri: seine Wähler sind gut situierte Mittelschicht, überwiegend Städter mit gehobenem Einkommen und guter Ausbildung. Diese seien in den Umfragen überrepräsentiert, daher werde er bei der Wahl voraussichtlich weniger Stimmen erhalten.

Hinzu kommt, dass der Organisationsgrad der peronistischen Wahlplattform Frente para la Victoria (Front für den Sieg) bis in die hintersten Winkel des Landes reicht. Weit über eine Million Stellen im öffentlichen Dienst haben die Kirchners in 12 Jahren (4 Jahren Nestor, 8 Jahre Königin Cristina) auf allen Ebenen des Staates geschaffen. Schlecht für die Staatskasse, aber gut als Machtbasis.

Denn ein Großteil dieser Leute lässt sich prima verpflichten als Wahlhelfer – ein Job auf den sonst niemand Lust hat. Und wer schreibt, der bleibt. Die Auszählungen bei der Vorwahl im August jedenfalls hatten eine unerhört hohe Quote von offensichtlichen Fehlern – um nicht überall gezielte Manipulation zu unterstellen. Die traditionell verwendeten Telegramme zur Meldung der Stimmabgabe an einzelnen Wahltischen wurden nach einer Schwarm-Analyse für La Nación zu 48% falsch oder nicht vollständig ausgefüllt. Ich hab mir selbst rund 600 solcher Telegramme angesehen und kann sagen: die Fehlerquote war enorm hoch.

Es fehlten vor allen Dingen Angaben über die Anzahl der abgegebenen Stimmen, über ungültige Stimmen und so genannte „weiße“ Voten – wenn also jemand bei einer der durchschnittlich fünf gleichzeitig durchgeführten Wahlen keine Stimme abgegeben hat (neben Präsident werden auch nationale Abgeordnete und Senatoren sowie zum ersten Mal Mitglieder des Parlaments des Mercosur gewählt; daneben werden in einigen Provinzen auch die regionalen Parlamente neu besetzt sowie Bürgermeister in den Kommunen gewählt). Zusammen mit den ausdrücklichen Voten müssten diese eigentlich die Anzahl der abgegebenen Stimmen ergeben. Neben vielen Rechenfehlern (mir unbegreiflich: es handelt sich um simple Additionen; abgesehen davon hat heute jedes Handy einen Taschenrechner eingebaut) stimmten diese Summen jedoch häufig nicht überein – oder ließen sich mangels einer Angabe über die Anzahl der Wahlscheine gar nicht überprüfen.

In einigen Fällen konnte man auch gezielte Manipulationen ausmachen – etwa wenn eine Partei in der Spalte für die Abgeordneten 90 Stimmen hatte, in der für den Präsidenten jedoch gar keine. Da es hier dank der bettlakenlangen Wahlzettel aufwändig ist, die Kandidaten unterschiedlicher Parteien für die verschiedenen zur Verfügung stehenden Posten zu wählen, ist ein solches Ergebnis extrem unwahrscheinlich (genauere Erläuterung des Wahlablaufs hier). Nach meinem Eindruck passierte das zwar nicht nur mit den Stimmen für Macris Parteienbündnis oder das des Drittplatzierten, Sergio Massa, aber diese waren häufiger davon betroffen. Besonders notorisch: die Provinz Tucumán, wo es nach den Vorwahlen deswegen auch gewaltsame Proteste gab. Ungeniert gab der Provinzgouverneur anschließend nach Medienberichten auch zu, dass von seinen Parteigenossen am Tag der Wahl Lebensmitteltüten an Wähler verteilt worden seien und sah darin nichts Verwerfliches. Schon Perón verteilte schließlich Pan Dulce (eine Art Stollen) und Sidra (Apfelwein), wenn auch in der Regel jährlich zu Weihnachten, nicht anlässlich eines Wahltermins.

Solcherart Manipulationen dürfte es auch am Wahltag morgen geben. Bereits gestern zwitscherten Regierungsanhänger, in verschiedenen Kommunen in der Provinz Buenos Aires habe das Wahlbündnis von Macri zu wenig oder gar keine Stimmzettel geliefert. Die Regierungstreuen sehen darin die Vorbereitung für eine anschließende Beschwerde über Wahlbetrug seitens Macri. Dessen Anhänger wiederum interpretierten die Tweets als vorsorgliche Entschuldigung für das beabsichtigte Verschwindenlassen der Wahlzettel, eine besonders beliebte, weil einfache, Form der Wahlmanipulation. Wenn keine Wahlzettel eines Kandidaten da sind, kann dieser auch nicht gewählt werden.

Das Rennen morgen mag eng werden und in der nächsten Woche wird garantiert über Manipulationen spekuliert und debattiert werden. Aber ich schließe mich Andy Tows Vorhersage an: Gewinner wird der Kontinuitäts-Kandidat. Zu einer Runde zwei, in der dann nur noch der Erst- und Zweitplatzierte gegeneinander antreten, wird es wahrscheinlich nicht kommen.

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6 Antworten zu Ein Sieg für den Kontinuitäts-Kandidaten

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  2. Ben schreibt:

    Na das war mal eine Überraschung am Sonntag 🙂 Jetzt sind die chancen für ein „Cambio“ schon etwas näher!!

  3. llamadojorge schreibt:

    Moin Ben, stimmt, ich war auch überrascht, als die ersten offiziellen Zahlen gegen halb eins am Montag früh veröffentlicht wurden. Die Umfrageinstitute haben sich mal wieder ordentlich mit Ruhm bekleckert und genau gar nichts herausgefunden. Aber noch hat Scioli nicht verloren. Ich schätze zwar im Zweikampf die Chancen Macris höher ein, aber die Kirchner-Truppen sind schon so oft für k.o. erklärt worden und immer wieder hochgekommen. Aktuell machen sie ja schon wieder Wahlwerbung mit der Angst vor einem Ausverkauf des Landes an die USA:
    Plakat an einer Bushaltestelle in Buenos Aires mit dem Slogan: 'Vaterland oder Macri'
    Wer weiß, wie viele Wähler sich davon noch beeindrucken lassen.
    PS: Wer die Ergebnisse nicht mitgekriegt hat, kann ja mal im Argentinischen Tagebuch nachlesen.

  4. Ben schreibt:

    Stimmt, die machen gerade eine „angst-campaña“ so was habe ich noch nie erlebt. Mein Facebook ist voll von militante Kirchner Anhänger die nur noch ein und das selbe posten, und zwar hetzte gegen Macri. Bei mir im Büro in der Arbeit sind auch alle Pro-Regierung und sprechen von nichts anderem mehr. Ständig hört man „Wenn Macri gewinnt dann machen die Unis dicht, dann verlieren die Wissenschaftler ihre Jobs, dann geht das Land dem Bach runter, usw…“. Scioli können die zwar auch nicht leiden, aber der wurde wenigstens von Königin Kristina gesegnet, das wäre ja schon mal was. Ich bin auf jeden Fall froh wenn der ganze Zirkus vorbei ist.

    Guter Artikel über das Thema: http://www.lanacion.com.ar/1841690-el-cuco-existe-y-se-llama-macri

    • llamadojorge schreibt:

      Hallo Ben, danke für das Lob und die Links. Ich verstehe nicht worauf Los Verdes warten, ’ne schriftliche Einladung? Wenn man als Partei gestalten will, muss man auch mit eigenen Kandidaten zu Wahlen antreten. Immerhin ist Cali nun erster grüner Abgeordneter, aber ob er im Abgeordnetenhaus viel wird bewegen können, da hab ich noch meine Zweifel. Umweltthemen stehen hier ja bislang eigentlich überhaupt nicht in der politischen Debatte, mit Ausnahme der gelegentlichen Proteste gegen Goldabbau und Zyanid-Verseuchung oder gegen den großflächigen Einsatz von Glyphosat. Und diese Themen schaffen es bislang selten über die regionalen Zeitungen hinaus.

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