Die Verwandlung

In Franz Kafkas Verwandlung wacht ein Handelsreisender für Tuchwaren eines Morgens auf und sieht sich in ein „ungeheures Ungeziefer“ verwandelt. Er kann die Wohnung, in der er gemeinsam mit seiner Schwester und seinen Eltern wohnt, fortan nicht mehr verlassen, wird aber zunächst noch von ihnen versorgt. Allerdings gestaltet sich das Zusammenleben zunehmend schwieriger…

Hier in Argentinien verwandelt sich gerade auch etwas – und zwar die Republik.

Kapitel 1

Schon unter der letzten Regierung der Königin von 2011-2015 gab es ja Tendenzen z.B. zur „Demokratisierung“ der Justiz, de facto einer Abschaffung der Gewaltenteilung von Exekutive, Legislative und Judikative. Die Mitglieder des Magistraturrats (Consejo de la Magistratura), der Richterposten besetzt, sollten in Zukunft vom Volk gewählt werden – und dazu bei den nationalen Wahlen auf denselben Wahlzetteln stehen wie die Politiker der verschiedenen Parteien. Warum das eine ganz schlechte Idee ist, erschließt sich natürlich erst, wenn man die hiesigen Wahlzettel kennt: Die druckt nämlich jede Partei selbst millionenfach und verteilt sie in den Stimmbezirken. Statt Kreuzchen zu machen steckt man einfach den entsprechenden Wahlzettel in einen Umschlag und diesen schließlich in die Urne.

Soweit so einfach. Politiker unterschiedlicher Gruppierungen in unterschiedliche Posten zu wählen fällt auf diese Weise aber natürlich erheblich schwerer, als wenn man einfach auf Seite 2 der Wahlzettel sein Kreuz eine Reihe weiter unten oder oben macht wie in Deutschland. Meist kommen die Wahlzettel unverändert in die Urne. Verboten ist das „cortar boleta“ genannte Verfahren natürlich nicht, aber sehr unüblich. Ergo sorgt die Partei mit den meisten Stimmen im Rennen um Exekutive und Legislative auch dafür, die meisten Stimmen im Rat für die Ernennung von Richtern zu besetzen – und damit die Judikative zu bestimmen. Fein, oder?

Cristina konnte sich 2013 damit zwar im Kongress durchsetzen, das Gesetz wurde jedoch anschließend vom Obersten Gericht als verfassungswidrig eingestuft und einkassiert. Aktuell sind aber alle von der Pandemie und täglich steigenden Infektionszahlen abgelenkt, die Justiz befindet sich in Quarantäne und auch der Kongress funktioniert erst ab morgen wieder – da kann man schon mal einen neuen Anlauf wagen. Diesmal geht es – wegen der Probleme beim letzten Mal – natürlich um die Besetzung des Obersten Gerichts und ob dieses aufgestockt und erweitert werden müsse. Einige – vor allem die Kirchneristen in der Regierung – sind da sehr für, vor allem wenn man für die neuen Posten nur die eigenen Leute nimmt (wie auf einer internen Veranstaltung der Lokalpolitiker Alex Durañona letztes Jahr kackdreist vorgeschlagen hat). Der Präsident – immerhin Sohn eines Richters, selbst Rechtsanwalt und Professor für Recht – hält die Erweiterung zwar persönlich nicht für notwendig, will sich aber die Meinung von einigen Experten anhören, bevor er das Thema mit einer Empfehlung ans Parlament zur Entscheidung schickt.

Wichtig ist das Thema Justiz aber vor allem seiner Vizepräsidentin, die das möglichst schnell durch beide Kammern des Kongresses bringen will. Dürfte ihr leichtfallen: Sie sitzt dem Senat vor, ihr Sohnemann ist Mehrheitsführer im Abgeordnetenhaus. Sie hegt einen erheblichen Groll gegen die Justiz, weil dort aktuell noch acht Verfahren gegen sie und ihre Kinder anhängig sind wegen Bereicherung im Amt und ähnlicher Vergehen ihrer früheren Präsidentschaften. Die möchte sie möglichst schnell beigelegt sehen – selbstverständlich mit Freispruch oder – wahlweise – wenigstens Einstellung des Verfahrens. Wenn man darüber hinaus Rache an den pösen Richtern üben kann, umso besser.

Kapitel 2

Die Corona-Pandemie musste auch schon als Ausrede für die Freilassung in den offenen Vollzug von Cristinas ehemaligem Vize Amado Boudou und diverser weiterer ehemaliger Würdenträger herhalten, weil die Enge in den Gefängnissen ja keinen Abstand erlaube. Gesundheitliche Gründe gab es ansonsten eigentlich keine und Boudou, in zwei Verfahren 2018 zu insgesamt 5 Jahren und 10 Monaten verurteilt und mit weiteren anhängig, hätte noch ein paar Jährchen abzusitzen. Für die Kirchneristen war er aber immer ein „politischer Gefangener“, als wenn er nicht wegen Korruption sondern seiner Überzeugung im Knast gesessen hätte. Mit dem Hinweis auf die überfüllten Gefängnisse wird inzwischen aber selbst über die Freilassung von über 2000 weiteren Sträflingen diskutiert, darunter mehrfache Mörder und Vergewaltiger, Leute mit bewaffneten Raubüberfällen oder Entführungen auf dem Kerbholz. Allerdings: zu einer Risikogruppe müssen sie gehören, also z.B. über 65 Jahre alt oder Asthmatiker sein, Bluthochdruck reicht zur Not wohl auch. Die Bevölkerung ist selbstverständlich überwiegend gegen eine Freilassung dieser Personen, darf ja aber wegen der Pandemie nicht öffentlich demonstrieren. Ein paar mal abendliches Topfschlagen war alles an zivilem Unmut was Regierung und Justiz bislang fürchten mussten.

Die Gefangenen werden selbstverständlich wenn überhaupt mit der Auflage des Hausarrests freigelassen – allerdings gibt es nicht genügend elektronische Fußfesseln und Personal, um den auch zu überwachen. Es bleibt also daher nichts anderes als sie dazu zu verpflichten, sich mehrmals in der Woche bei einer Polizeidienststelle in ihrer Nähe zu melden. Den Rest des Tages sind sie sich selbst überlassen. Leute, die z.T. neben oder in der Nähe ihrer Opfer wohnen, die sicher auch einen Groll gegen den einen oder anderen Polizisten oder Justizvollzugsbeamten hegen. Alles in allem in meinen Augen keine wirklich gute Idee, solange es nicht zu nennenswerten Ausbrüchen hinter den Gefängnismauern kommt. Obwohl natürlich auch andere Länder wie der Iran, Türkei oder Frankreich Sträflinge zu Tausenden oder gar Zehntausenden auf freien Fuß gesetzt haben.

Kapitel 3

Das alles ist aber immer noch nur ein Teil des Anschlags auf die Grundfesten der Republik. Am Montag erschien im Boletín Oficial, so etwas wie dem hiesigen Bundesgesetzblatt, das Dekret 457/2020 des Präsidenten, mitunterzeichnet von all seinen Ministern, das es in sich hat: um den Herausforderungen der Pandemie wirksamer begegnen zu können räumt der Präsident dort seinem Kabinettschef (und damit de facto sich selbst) umfassende Vollmachten der Umschichtung von Budgetposten innerhalb des Bundeshaushalts 2020 ein und zwar bis zu 100% des Haushaltsplans (Art. 4 und 6!). Normalerweise darf eine Regierung Haushaltsmittel nur bis zu einem Maximum von 5% umschichten.

Hinzu kommt, dass wir eigentlich gar keinen Haushalt 2020 haben, sondern immer noch mit dem von 2019 arbeiten, weil sich die Parteien Ende vergangenen Jahres nicht rechtzeitig einig wurden einen neuen Haushalt zu verabschieden. Das führte u.a. dazu, das z.B. das neu geschaffene Ministerium für Frauen gar kein Budget hat. Nun darf also Kabinettchef Cafiero Gelder aus dem Haushalt nach Herzenslust herumschieben, wenn er irgendeine Begründung findet, dass das wegen der Corona-Krise wichtig ist, und damit etwas an sich reißen, was in Demokratien ein originäres Vorrecht des Parlaments ist. Die Abgeordneten haben entsprechend schon angekündigt, dass sie diesbezüglich starken Gesprächsbedarf haben, wenn sie ab morgen virtuell im Kongress zusammentreten. So gut wie allen nicht peronistischen Abgeordneten scheint nicht zu schmecken, dass ihnen hiermit ein großer Teil ihrer Daseinsberechtigung entzogen wird.

Epilog

Auch dieses Thema genießt in der Öffentlichkeit nur wenig Aufmerksamkeit, nur wer wie ich gerade viel Zeit hat, bekommt bei dieser Umschau einen Eindruck davon, was da gerade abläuft: In meinen Augen eine Verwandlung des demokratischen Rechtsstaats zu einer Diktatur ohne Recht und Gesetz. Wie bei Gregor Samsa in Kafkas Kurzgeschichte schreitet die Verwandlung in Etappen voran bis der Protagonist am Ende stirbt. Kafkas Erzählung endet zwar mit einem fröhlichen Ausflug seiner Restfamilie ins Grüne vor die Stadt. Ich befürchte, die argentinische Verwandlung führt eher in venezolanische Abgründe…

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Eine Antwort zu Die Verwandlung

  1. Marcel schreibt:

    Hallo Helge
    Wahnsinn in Argentinien, es hört und hört nicht auf mit Neuinfektionen und hier in Uruguay gehen die aktiven Fälle fast täglich zurück – noch 84 aktive Fälle per heute.
    Tut mir echt leid für Euch, trotz all diesen Anstrengungen, dass es sich nicht bessert, auch wenn es nur ganz wenig betroffene Provinzen sind.
    In Brasilien noch viel viel übler und wir zwischendrin.
    In der Neuen Zürcher Zeitung NZZ gabs neulich einen Artikel über Uruguay
    https://www.nzz.ch/international/coronavirus-uruguay-macht-einen-bemerkenswerten-job-ld.1559464
    Na dann wünsche ich Euch, dass der Spuk bald mal vorbei geht, auch wenn es nicht wirklich so danach aussieht. Noch bis zum 28.6. und dann???
    Ansonsten hat es viele Anfrage von Argentiniern, die nach Uruguay und insbesondere auch in das naheliegende Departement Colonia kommen wollen. Zumal es für wohlhabende Argentinier auch noch Steuerbefreiung für glaub 5 Jahre geben soll. Was ich zwar auch verschenktes Geld finde. Die sollen für die Lebensqualität hier auch ruhig was bezahlen. Nach Corona kommen die auch so, die muss man nicht noch mit Geschenken ködern. Ist auch unfair gegenüber den Einheimischen.
    Gruss über den Fluss
    Marcel

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