Roundup

Ich glaube, wir können uns alle darauf einigen, dass 2020 ein Scheißjahr ist, das man am besten in die Tonne tritt. In Argentinien kommt aber hinzu, dass wir schon vor der Pandemie mehrere Jahre in einer ausgewachsenen Wirtschaftskrise gesteckt haben, die jetzige Regierung ihr Amt gerade erst aufgenommen hatte und noch dazu viele Posten der zweiten und dritten Ebene mit jungen, unerfahrenen Leuten besetzt hat, bei deren Auswahl Ideologiefestigkeit offenbar wichtiger war als Sachkompetenz.

Weil ich nicht dazu komme, zu allen Themen, die einen eigenen Beitrag wert wären, tatsächlich einen zu schreiben hier deshalb nur ein kurzer Abriss dessen, was hier so los ist:

  • Argentinien klettert weiter fleißig die Rangliste der am schlimmsten von COVID-19 betroffenen Länder empor. In absoluten Zahlen liegen wir seit heute mit über 750.000 identifizierten Infizierten auf dem achten Rang weltweit; betrachtet man die Zuwachsraten liegen wir auf Rang vier; dito bei der Zahl der Menschen auf den Intensivstationen; und betrachtet man die Sterberate der letzten zwei Wochen (4.667) in Relation zur Bevölkerungsgröße (45.299.146) ist es ein trauriger Rang 1. Die „Quarantäne“ wird währenddessen seit März immer wieder verlängert, es hält sich nur so gut wie keiner mehr dran. Und angesichts der schlechten Zahlen bei Infektionen und Toten mag auch der Präsident nicht mehr im Fernsehen vor seinen Wählern auftreten. Klar, jetzt kann er sich nicht mehr brüsten, wie viel besser Argentinien da steht als seine Nachbarn.
  • Die Wirtschaftskrise hat uns weiter fest im Griff. Rund vier Millionen Menschen haben durch die Quarantäne ihre Arbeit verloren, um 1,7 Mio. ist seit Anfang des Jahres die Zahl der Armen gestiegen. Aktuell liegt die Armutsquote über die gesamte Bevölkerung bei 40,9 Prozent, bei Kindern sogar bei knapp 60 Prozent: insgesamt 18,5 Mio. Menschen! Im absoluten Elend leben rund 10 Prozent der Argentinier. Alles keineswegs nur Probleme Argentiniens, ganz Lateinamerika geht’s ähnlich.
  • Die Regierung tut derweil viel, um das schlimmste Leid zu lindern, hat dafür allerdings die Notenpresse wieder angeschmissen und müsste eigentlich dringend den Peso abwerten. Das passt ihr nur nicht in den Kram, das wäre ein schlechtes Zeichen für die Gläubiger, die ohnehin nur noch wenig Vertrauen haben. Zwar hat der Wirtschafts- und Finanz-Superminister Martín Guzmán eine Umschuldung erreicht, die aber im Grunde nur eine Verschiebung der Tilgung der Schulden auf nach den nächsten Präsidentschaftswahlen bedeutet. Soll doch der nächste Präsident sehen, wie er das Schuldenproblem wieder los wird.
  • Um nicht noch mehr Dollar zu verlieren, hat die Regierung auch die Kapitalverkehrskontrollen nochmal verschärft. Konnte man pro Person bisher schon nur maximal 200 US-Dollar im Monat zum offiziellen Kurs kaufen, gilt das jetzt pro Familie. Ausgeschlossen wurden außerdem alle, die irgendwelche Schulden beim Staat haben oder Empfänger irgendwelcher Unterstützungsleistungen sind. Viele Empfänger der Staatshilfen zur Überbrückung der Corona-Krise beispielsweise konnten noch im August diese Hilfen (ungefähr 10.000 Pesos) zum offiziellen Kurs in Dollar wechseln, um sie dann auf dem Schwarzmarkt wieder in Pesos zu tauschen und so über rund 16.000 Pesos zu verfügen. Der inoffizielle Wechselkurs liegt 90% über dem offiziellen… Um das Ganze noch unattraktiver zu machen schlug die Regierung zu den bisherigen 35% nochmal 30% Extra-Steuer oben drauf, so dass selbst Dollarkäufe zum offiziellen Kurs plus Steuern inzwischen rund 130 Pesos / Dollar kosten. Ich rechne eigentlich täglich damit, dass der Devisenhandel komplett ausgesetzt wird…
  • Nicht zuletzt deswegen verlassen immer mehr Multis Argentinien. Die chilenische Warenhauskette Falabella, die auch die Baumarktkette Sodimac betreibt, hat angekündigt, sich aus Argentinien zurückzuziehen und Käufer für die bisherigen Geschäfte zu suchen. Der Lieferdienst Glovo geht ebenfalls, das lokale Geschäft wird dem Wettbewerber PedidosYa überlassen. Und Coca-Cola verlegt die Lateinamerika-Zentrale von Argentinien nach Brasilien.
  • Statt sich mit all diesen wirklich wichtigen Problemen zu befassen, bemüht sich die Regierung auf Betreiben von Vizepräsidentin Cristina weiter um die Bereinigung der Justiz von unliebsamen Richtern, die ihr und ihrer Familie in diversen Gerichtsverfahren immer noch nachspüren. Freundlicherweise hat der Oberste Gerichtshof die Entlassung von drei dieser Richter, die von Macri eingesetzt worden waren, erstmal gestoppt – pikanterweise indem der Gerichtshof das Verfahren, das eigentlich in einer unteren Instanz hing, eigenmächtig an sich gezogen hat. Diese Möglichkeit war unter Cristinas zweiter Regentschaft gegen den erbitterten Widerstand der Macristen eingeführt worden. Jetzt feiern die Letzteren sie als Rettungsanker der Republik während die Cristinisten die bösen Richter verdammen.
  • Während die Waldbrände in Kalifornien es auch regelmäßig in deutsche Medien schaffen, gelingt das den Bränden im Zentrum Argentiniens nur selten. Dabei sind die nicht minder schlimm. Seit Monaten ist in der Region kein Regen gefallen, es ist alles extrem ausgetrocknet, ein Funke genügte, und mehrere Provinzen standen in Flammen. Im Jahresvergleich hat die Zahl der Brände in Argentinien in den ersten neun Monaten um mehr als 160% zugenommen (INPE). Besonders gravierend ist die Situation zurzeit in Córdoba rund um den beliebten Urlaubsort Villa Carlos Paz, wo die Flammen inzwischen auch in bewohnte Gebiete vordringen. Ich hoffe, Antjes Nest in Tanti bleibt verschont. Die Feuerwehren sind erschöpft und haben nur unzureichende Ausrüstung um die Siedlungen wirksam zu schützen, viele Bewohner mussten daher bereits evakuiert werden. Aber auch im Rest der Provinz leiden die Menschen unter dichten Rauchschwaden und der ständigen Angst, dass der permanent blasende heiße Wind irgendwo schwelende Brände erneut anfachen könnte. Regen ist für die nächsten zwei Wochen nicht in Sicht, die Situation kann also allenfalls gleich schlimm bleiben.
  • Die kuriose Nachricht zum Schluss: letzte Woche sorgte ein argentinischer Kongress-Abgeordneter für internationale Schlagzeilen, der sich während der per Videochat abgehaltenen Sitzung des Abgeordnetenhauses an den Brüsten seiner Geliebten zu schaffen machte. Offenbar glaubte der Herr sich unbeobachtet. Das kann er ab sofort wieder sein, denn die Abgeordneten warfen ihn kurzer Hand hinaus.

Die „ehrenwerten Brüste der Nation“ titelte Clarín

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4 Antworten zu Roundup

  1. ruben kalmbach schreibt:

    Wieder einmal eine gelungene Analyse! Hut ab!

  2. Marcel schreibt:

    Besten Dank für Deine fundierten Up-Dates. Ja es sieht an allen Fronten ziemlich desolat aus in Argentinien.
    Und stimmt von den grossflächigen Feuern liest man in den deutschen Medien kaum je was
    Die Todeszahlen sind weltrekordhoch, zw. 9-10 Tote pro Mio pro Tag – den heutigen Tag mit den vielen Toten mal weggelassen. Machen die jetzt die belgische Methode — es wird einfach mal alles gezählt, was mit Corona zu tun haben könnte? Nun im Falle Argentinies könnte ich mir schon vorstellen, dass viele Tote nicht erfasst wurden.
    Ist eh schwierig, im UK haben sie auch irgendwann mal um die 4000 dazugeschlagen, dann ein paar Monate später wurden wieder etwa ähnlich viele abgezogen aus den Coronastatistiken.
    Die Frage wieviele OHNE Corona noch leben würden ist nun mal schwierig zu beantworten.
    Dann bleib gesund — bei uns hats inzwischen im Departement 19 Fälle – soviele wie noch nie zuvor, nachdem wir monatelang null oder max 1-2 hatten.

  3. antje schreibt:

    hallo helge, ab morgen 12.10. dürfen wir cordobeses uns wieder nicht treffen, keinen vorher erlaubten sport betreiben, familientreffen am WE nicht mehr veranstalten, cabañasbesitzer nicht mehr für ein paar stunden kommen, um ihre häuschen zu begutachten usw… aber es werden lehrgänge für den künftigen tourismus angeboten, besteht also hoffnung?! heute morgen beim fenster öffnen wieder rauch in der nase, der himmel teilweise gelblich-braun. die brände sind allerdings weit entfernt. bleib gesund, antje

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