Applaus, Applaus, Applaus!

Wenn es noch irgeneines Beweises bedurft hätte, dass hiesige (hiesige?) Politiker in erster Linie an sich selbst und die eigene Klientel denken, dann ist das wohl das hier: in derselben Woche, in der bekannt wurde, dass Vize- und Senatspräsidentin Kirchner gemeinsam mit dem Vorsitzenden des Unterhauses Sergio Massa eine Zusatzzahlung von 2.300 Pesos pro Tag für die Kongressangestellten beschlossen haben, die wegen ihrer Präsenz vor Ort im Kongressgebäude schließlich besonderen Gefahren wegen Corona ausgeliefert gewesen sein sollen (welchen?), wird auch bekannt, dass Ärzten und Pflegern in den privaten Kliniken das Gehalt um 12 bis 50% gekürzt wird. Ja, man glaubt es kaum: die so genannten „essentiellen Dienstleister“, die ohnehin schon ein eher mageres Grundgehalt von um die 45.000 Pesos (~600 Euro) im Monat beziehen, sollen zusätzlich zum erhöhten Risiko des Dienstes mit unzureichender Schutzausrüstung während einer Pandemie auch noch auf Gehalt verzichten. Na ja, schließlich applaudieren die Argentinier ja allabendlich, da gleicht sich das aus…

Grund ist die seit fast zwei Monaten geltende Verpflichtung der Krankenhäuser und Kliniken, so viele Betten wie möglich für Corona-Patienten freizuhalten. Was natürlich bei gleichzeitiger Ausgangssperre und inzwischen Maskenpflicht und eben deswegen ausbleibender exorbitanter Patientenzahlen dazu geführt hat, dass in den Hospitälern Tausende Betten leer stehen, Ärzte und Pfleger nix zu tun und die Klinikleitungen nichts zum Abrechnen haben.

De facto soll nach Ansicht der Kliniken der Staat über die Rentenversicherung ANSES jetzt die Zeche zahlen. Schließlich sei der Leerstand ja politisch verordnet. ANSES aber zahlt notorisch verspätet, wenn überhaupt. Ich kenne etliche Rentner, die ihre Rente erst in jahrelangen Zivilprozessen einklagen mussten. Sofern sie die Zeit bis zum Urteilsspruch überlebt haben, kriegen sie natürlich alles auf einmal und sogar mit einem gewissen Inflationsausgleich, aber für ANSES ist diese Vorgehensweise wahrscheinlich trotzdem von Vorteil. Die Mitarbeiter im Gesundheitswesen kennen diese Probleme selbstverständlich auch und sind entsprechend besorgt im Hinblick auf ihre finanzielle Situation. Hier, aus einem Whatsapp-Kettenbrief von heute:

„Ich war heute im Supermarkt und habe eingekauft: Lebensmittel und Dinge des täglichen Bedarfs. Die Kassiererin sagte: Macht 10.000 Pesos. Ich hab sie angelächelt und ihr applaudiert. Mit einem schiefen Lächeln fragte sie: Was machen Sie da? Ich zahle meine Rechnung, sagte ich. Das ist der Lohn, den ich täglich für meine Arbeit erhalte. Aber ich begriff, dass ich so nicht meine Rechnung bezahlen konnte.

Ich kam nach Hause und fand dort die Kreditkarten-Abrechnung mit der Zahlung für die Privatschule meiner beiden Kinder – einer Schule, auf der sie schon seit zwei Monaten nicht mehr waren. Ich rief dort an und applaudierte, um die Beiträge zu begleichen. Man sagte mir, man sei zwar dankbar für den Applaus, aber damit könne man nicht die Gehälter von Lehrern und Angestellten der Institution bezahlen. Sie hatten natürlich recht.

Ich erhielt eine Whatsapp-Nachricht aus einer Gruppe von Ärzten von meiner Arbeitsstelle, ich solle meinen Anteil an der Schutzausrüstung bezahlen, die wir privat bestellt hatten, um uns nicht mit COVID-19 zu infizieren. In einem ebenfalls per Whatsapp geteilten Video zeigte eine Kollegin stolz, wie sie aus Müllbeuteln mit Hilfe ihres Lockenstabes und entsprechender Schnittmuster Schutzkittel herstellt.

Es war 21 Uhr und der tägliche Applaus brandete durch die Straße. Ich schaltete den Fernseher ein, wo ein Journalist darüber informierte, dass das angesehene Hospital Italiano seinen Angestellten das Gehalt um 12% kürzt. Andere Institutionen seien auf einem ähnlichen Weg, hieß es. Währenddessen sollen die Angestellten des Kongresses _pro Tag_ Präsenzarbeit im Kongress einen Bonus von 2.300 Pesos erhalten – zusätzlich zu ihrem Grundgehalt. Macht pro Mitarbeiter einen Bonus von durchschnittlich 70.000 Pesos.

Entsprechend angefressen hab ich auf meinem Lohnzettel nachgeschaut, ob sie mir wenigstens die für vier Monate versprochenen 5.000 Pesos Pandemie-Sonderzahlung _pro Monat_ überwiesen hatten. Sie hatten nicht.

Mein Sohn bemerkte meine Traurigkeit und fragte: Papa, würdest du nochmal Arzt werden? Ich sagte, ja, ich würde immer wieder Arzt werden, aber das bedeutet nicht, dass ich umsonst arbeiten kann. Ein Spezialist hat 12 Jahre Studium und Fortbildungen in sein Können investiert und medizinische Fehler können mit Millionenstrafen und sogar Gefängnis geahndet werden. Aber vom Arzt verlangt man, dass er seinen Beruf aus Berufung ausübt.

Ich bitte euch als Gesellschaft: lasst uns nicht allein.“

Anonym

Die Linke Tageszeitung beeilte sich darauf hinzuweisen, dass keine der privaten Kliniken irgendwelche Berechnungsgrundlagen vorgelegt habe, auf deren Basis man die Verluste der Unternehmen und damit die Kürzungen der Gehälter rechtfertige. Außerdem gehörten einige der Kliniken einigen der reichsten Argentinier, die offenbar weder für eine adäquate Ausstattung ihrer Krankenhäuser noch für angemessene Bezahlung ihrer Angestellten einstehen wollten.

Das mag so sein. Und ich komme bei ca. 20 Arbeitstagen im Monat auch nicht auf 20 x 2.300 = 70.000, wie der Mediziner oben. Aber dass die Mediziner hier den Entscheidern in der Politik außer ein bisschen Applaus nichts wert sind, glaube ich lässt sich nicht bestreiten. Ich hab selbst Ärzte in der Verwandt- und Bekanntschaft und weiß, dass da nur was hängen bleibt, wenn sie Ober- oder Chefärzte geworden sind und möglichst viele möglichst teure Operationen durchführen. Ärztestreiks sind insbesondere im öffentlichen Gesundheitswesen eine regelmäßig wiederkehrende Erscheinung, allerdings meist ohne Folgen – denn der Notdienst für dringende Fälle bleibt immer gewährleistet.

Ganz anders springen da die Politiker, wenn die LKW-Fahrer oder – Gott bewahre – die Müllmänner streiken. Denn die können das Land wirklich lahmlegen. Wahrscheinlich beziehen sie deshalb ähnliche Löhne wie die Ärzte. Aber sie kriegen weniger Applaus.

Dieser Beitrag wurde unter Argentinien abgelegt und mit , , , , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

4 Antworten zu Applaus, Applaus, Applaus!

  1. muetzenfalterin schreibt:

    Das ist in der Tat empörend! Und der WhatsApp Brief eine sehr gute, entlarvende Reaktion. Ich denke nur, dass Müllmänner und LKW Fahrer tatsächlich auch sehr wichtig sind, ebenso wie die Kassiererin. Problematisch sind die Gehälter von Managern und HR Leuten z.B. Ich denke das wird in Argentinien ähnlich sein wie überall auf der Welt. Und letztendlich ist das alles ja nur die Spitze des Eisberges eines Wirtschaftssystems, was schon lange vor der COVID-19 Sache am Ende war.

    • llamadojorge schreibt:

      Liebe Mützenfalterin, du hast selbstverständlich Recht, dass die Müllmänner und LKW-Fahrer genauso ausgebeutet werden. Ist nur schon seltsam, wenn jemand 7-12 Jahre seines Lebens in ein kompliziertes und nicht selten ja lebensrettendes Studium investiert und dann das gleiche verdient wie jemand, der einen LKW-Führerschein gemacht hat oder auch nur neben einem Müllauto herlaufen und da Plastiktüten reinschmeißen kann. Was Argentinien angeht bin ich aber auch bei den Manager-Gehältern nicht so sicher, dass die so exorbitant sind. Große Arbeitgeber, die sich große Gehälter leisten könnten, sind meist ausländische Unternehmen – und die transferieren Gewinne schließlich nicht selten nach Hause zurück oder in irgendwelche Steueroasen. Der Geschäftsführer einer solchen Zweigstelle verdient hier sicher nicht schlecht (zumal es sich dabei nicht selten um Expats handelt, die vom Mutterhaus für ein paar Jahre hierher entsendet werden, inklusive Miete für’s Haus in einer Gated Community, Auto mit Sicherheitsausstattung, vielleicht sogar Chauffeur, Übernahme der Kosten für die Ausbildung schulpflichtiger Kinder an einer internationalen Schule etc). Schon die Ebene drunter hat dann aber – aus internationaler Perspektive – nur noch relativ bescheidene Gehälter von umgerechnet ein paar Tausend Euro im Monat. Was freilich für das hiesige Preisniveau völlig ausreicht, wenn man nicht völlig abgehoben lebt. Absurd wird es hingegen – und damit komme ich wieder auf meine Einleitung von oben zurück – in der Politik und Justiz. Denn dort stehen den Gehältern in ähnlicher Höhe nur sehr bescheidene Leistungen gegenüber. Die Damen und Herren Richter zahlen darauf nicht einmal Einkommenssteuern, weil das irgendwann mal so beschlossen wurde und sie dieses Privileg mit Zähnen und Klauen verteidigen. Gleichzeitig haben sie selbstverständlich den größten Teil des Sommers frei, die so genannte „feria judicial“. Abgeordnete kriegen auch noch üppige Reisekostenzuschüsse, deren Abrechnungen bisweilen lächerlich sind (ich hab vor einiger Zeit mit Freiwilligen an der Aufarbeitung der Senatsabrechnungen mitgearbeitet: jede zehnte Abrechnung war ein Eigenbeleg ohne jegliche Begründungspflicht). Aber auch wenn sie nicht frei haben sind die Herrschaften nach meinem Eindruck hauptsächlich mit dem Umschichten von Aktenstapeln beschäftigt – Urteile fallen hier meist erst nach Jahren, Jahrzehnten oder sogar nie; neue Gesetze brauchen meistens eine ganze Weile und fallen immer wieder gegen Ende des Jahres durch, weil sie nicht rechtzeitig auf die Agenda von Senat oder Abgeordnetenhaus gesetzt wurden. Und dann gibt’s zwei, drei Marathon-Sitzungen mit irgendwelchen blödsinnigen Beschlussfassungen um vier Uhr morgens. Dafür dann ein Gehalt, dass die Durchschnittslöhne um das zehnfache übersteigt ist einfach schwer, sehr schwer zu rechtfertigen. Ganz zu schweigen von Mindestlohn und Mindestrente, bei denen das Verhältnis eher in der Nähe von 1:20 liegen dürfte. Mein Blutdruck steigt schon wieder…

  2. Marcel schreibt:

    Hallo Helge Bei uns in Uruguay siehts ganz gut aus — heute noch 170 aktive Fälle, davon gerade mal 3 im Departement Colonia (und zwei davon schon seit x Wochen, scheinen Fälle zu sein, die auch nach Wochen noch positiv anzeigen, aber die Viren vermutlich schon tot sind).
    Die Chance von einem Auto überfahren zu werden dürften im Dept. Colonia also fast grösser sein als sich Corona zu holen. Die Fähre ist ja auch immer noch nicht in Betrieb.
    Aber eben der Winter steht noch aus. Aber bislang verhalten sich die Urus gut trotz nur Quarantäne light die es gab, gibt halt Maskenpflicht beim einkaufen und nur wenige dürfen in den Laden. Nächsten Sonntag gehen wir wieder mal auswärts essen auf dem Campo. Ein Hauch von Normalität kehrt langsam zurück.
    Gruss über den Fluss

  3. llamadojorge schreibt:

    Grüezi Marcel, ja, wir Großstadtbewohner haben bei Pandemien natürlich die Arschloch-Karte. Da geht’s euch auf dem Land – und noch dazu in einem Land, das nur ein Drittel so viele Einwohner hat wie diese Stadt hier – natürlich wesentlich besser. Hier fängt das vor allem in den Slums ja gerade erst richtig an und wird dort so schnell auch nicht vorbei sein. Andererseits ist die Rede davon, ab nächster Woche unsere Quarantäne noch ein bisschen weiter zu lockern, weil sich die Menschen (und Unternehmen) den Stillstand bei verordneter Weiterbeschäftigung aller Angestellten schlicht nicht leisten können. Im Gegensatz z.B. zu USA hat es ja hier kaum Entlassungen gegeben, weil die von oben verboten waren. Aber wer ohne Einnahmen seine Angestellten weiter voll bezahlen muss hat natürlich ein betriebswirtschaftliches Problem. Und das kann schnell zum volkswirtschaftlichen werden, wenn viele dieser Unternehmen demnächst Insolvenz anmelden. Aber die Argentinier sind’s ja gewohnt, insolvent zu sein, da gibt’s dann wahrscheinlich ein weiteres Dekret, dass den Banken und sonstigen Gläubigern das Eintreiben von Schulden verbietet und gut ist. Ich wünsche mir euren Hauch von Normalität, ganz ehrlich. Wobei mit Ausnahme von Bildungseinrichtungen, Restaurants und Klamottenläden hier schon jetzt so gut wie alles wieder auf hat und der Verkehr auf den Straßen an einen normalen Sonntag erinnert. Ab nächster Woche kommen wahrscheinlich auch die Bauarbeiter wieder zur Arbeit und vermutlich öffnen sogar die Bekleidungsgeschäfte wieder. Wird Zeit: ich hab mir mit dem Scheiß-Chlor, das hier zum Desinfizieren von allem verwendet wird, etliche Hosen und T-Shirts ruiniert und bräuchte eine Erneuerung. Grüße zurück!

Hinterlasse einen Kommentar