Jetzt Urlaub in Argentinien

Guten Abend. Falls hier noch irgendwer mitliest nach drei Jahren Pause, hier nur ein ganz kurzes Lebenszeichen und eine Einladung. Wie die meisten ja mitbekommen haben dürften, hat Argentinien seit Sonntag eine neue Regierung. Eine ganz andere. Ganz ohne Peronisten. Und mindestens ein Teil der Bevölkerung hat ihrem neuen Präsidenten bei der Amtseinführung zugejubelt, als der sie in einer Blut, Schweiß und Tränen-Rede auf die kommenden Monate und Jahre eingestimmt hat. Heute abend nun hat der Wirtschaftsminister Luis Caputo (Spitzname: Toto, kein Witz!) die ersten Maßnahmen verkündet, die diese Regierung zur Stabilisierung des Landes ergreifen wird.

Luis „Toto“ Caputo

Neben einem absoluten Austeritätskurs für die Staatsausgaben (nicht nur Null-neue Schulden, sondern Null-Defizit!) gehört dazu auch eine heftige Abwertung des Peso gegenüber Dollar, Euro und allen anderen etwas substanzielleren Währungen der Welt. Von rund 400 Peso pro Dollar offiziellem Umtauschkurs heute werden wir morgen mit 800 Peso pro Dollar aufwachen.

Diese drastische Abwertung von 100% schockt hier niemanden wirklich, denn zum offiziellen Kurs gab es den Dollar sowieso seit Jahren nicht – oder nur noch für eine kleine Minderheit und in Mengen von höchstens 200 im Monat. Wer mehr brauchte beschaffte sich die über den Finanzmarkt zu Kursen, die bis heute knapp unter 1000 Pesos lagen, oder in Umtausch“höhlen“ (cuevas), wo der halboffizielle „blaue“ Dollar heute für 1070 Pesos über die Theke ging.

In letzteren konnten (und können) auch Touristen den umgekehrten Umtausch machen und dabei deutlich besser wegkommen als beim Bezahlen mit der Kreditkarte oder dem Ziehen von „Kleingeld“* am Geldautomaten, wo immer der offizielle Kurs zugrunde liegt. Die cuevas haben allerdings den Nachteil, dass man da nur mit Bargeld aufkreuzen kann, das man entsprechend aus dem Ausland mitbringen muss.

Wem das zu unsicher war musste halt die Preise zu den offiziellen Wechselkursen erdulden – und da war Argentinien dann plötzlich ganz schön teuer. Und genau das ändert sich jetzt. Aktuell gibt es ein Zeitfenster von ein paar Monaten, in denen hier alle mit Krisenbewältigung beschäftigt sein werden und als Tourist kann man hier zum neuen Wechselkurs wie ein Fürst leben, auch wenn man mit Kreditkarte zahlt oder sich das benötigte Bargeld aus dem Automaten zieht.

Wer also immer schon mal vor hatte, Argentinien kennen zu lernen: jetzt wäre der Moment. Wer Reisetipps braucht, kann sich ja melden. Noch wissen wir ja nicht, wie dieses Freiluftexperiment mit einem libertären Hundenarren an der Staatsspitze ausgeht. Ob er es nicht vielleicht privatisiert und an seinen Kumpel Elon Musk oder den Disney-Konzern verhökert. Die verlangen dann garantiert Eintritt.

* Kleingeld deshalb, weil unsere höchste Banknote – 2000 Pesos – ja nicht mal fünf Euro wert ist. Und die gibt’s erst seit wenigen Wochen, eigentlich laufen wir mit Bündeln von 500ern und 1000ern herum

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Roundup

Ich glaube, wir können uns alle darauf einigen, dass 2020 ein Scheißjahr ist, das man am besten in die Tonne tritt. In Argentinien kommt aber hinzu, dass wir schon vor der Pandemie mehrere Jahre in einer ausgewachsenen Wirtschaftskrise gesteckt haben, die jetzige Regierung ihr Amt gerade erst aufgenommen hatte und noch dazu viele Posten der zweiten und dritten Ebene mit jungen, unerfahrenen Leuten besetzt hat, bei deren Auswahl Ideologiefestigkeit offenbar wichtiger war als Sachkompetenz.

Weil ich nicht dazu komme, zu allen Themen, die einen eigenen Beitrag wert wären, tatsächlich einen zu schreiben hier deshalb nur ein kurzer Abriss dessen, was hier so los ist:

  • Argentinien klettert weiter fleißig die Rangliste der am schlimmsten von COVID-19 betroffenen Länder empor. In absoluten Zahlen liegen wir seit heute mit über 750.000 identifizierten Infizierten auf dem achten Rang weltweit; betrachtet man die Zuwachsraten liegen wir auf Rang vier; dito bei der Zahl der Menschen auf den Intensivstationen; und betrachtet man die Sterberate der letzten zwei Wochen (4.667) in Relation zur Bevölkerungsgröße (45.299.146) ist es ein trauriger Rang 1. Die „Quarantäne“ wird währenddessen seit März immer wieder verlängert, es hält sich nur so gut wie keiner mehr dran. Und angesichts der schlechten Zahlen bei Infektionen und Toten mag auch der Präsident nicht mehr im Fernsehen vor seinen Wählern auftreten. Klar, jetzt kann er sich nicht mehr brüsten, wie viel besser Argentinien da steht als seine Nachbarn.
  • Die Wirtschaftskrise hat uns weiter fest im Griff. Rund vier Millionen Menschen haben durch die Quarantäne ihre Arbeit verloren, um 1,7 Mio. ist seit Anfang des Jahres die Zahl der Armen gestiegen. Aktuell liegt die Armutsquote über die gesamte Bevölkerung bei 40,9 Prozent, bei Kindern sogar bei knapp 60 Prozent: insgesamt 18,5 Mio. Menschen! Im absoluten Elend leben rund 10 Prozent der Argentinier. Alles keineswegs nur Probleme Argentiniens, ganz Lateinamerika geht’s ähnlich.
  • Die Regierung tut derweil viel, um das schlimmste Leid zu lindern, hat dafür allerdings die Notenpresse wieder angeschmissen und müsste eigentlich dringend den Peso abwerten. Das passt ihr nur nicht in den Kram, das wäre ein schlechtes Zeichen für die Gläubiger, die ohnehin nur noch wenig Vertrauen haben. Zwar hat der Wirtschafts- und Finanz-Superminister Martín Guzmán eine Umschuldung erreicht, die aber im Grunde nur eine Verschiebung der Tilgung der Schulden auf nach den nächsten Präsidentschaftswahlen bedeutet. Soll doch der nächste Präsident sehen, wie er das Schuldenproblem wieder los wird.
  • Um nicht noch mehr Dollar zu verlieren, hat die Regierung auch die Kapitalverkehrskontrollen nochmal verschärft. Konnte man pro Person bisher schon nur maximal 200 US-Dollar im Monat zum offiziellen Kurs kaufen, gilt das jetzt pro Familie. Ausgeschlossen wurden außerdem alle, die irgendwelche Schulden beim Staat haben oder Empfänger irgendwelcher Unterstützungsleistungen sind. Viele Empfänger der Staatshilfen zur Überbrückung der Corona-Krise beispielsweise konnten noch im August diese Hilfen (ungefähr 10.000 Pesos) zum offiziellen Kurs in Dollar wechseln, um sie dann auf dem Schwarzmarkt wieder in Pesos zu tauschen und so über rund 16.000 Pesos zu verfügen. Der inoffizielle Wechselkurs liegt 90% über dem offiziellen… Um das Ganze noch unattraktiver zu machen schlug die Regierung zu den bisherigen 35% nochmal 30% Extra-Steuer oben drauf, so dass selbst Dollarkäufe zum offiziellen Kurs plus Steuern inzwischen rund 130 Pesos / Dollar kosten. Ich rechne eigentlich täglich damit, dass der Devisenhandel komplett ausgesetzt wird…
  • Nicht zuletzt deswegen verlassen immer mehr Multis Argentinien. Die chilenische Warenhauskette Falabella, die auch die Baumarktkette Sodimac betreibt, hat angekündigt, sich aus Argentinien zurückzuziehen und Käufer für die bisherigen Geschäfte zu suchen. Der Lieferdienst Glovo geht ebenfalls, das lokale Geschäft wird dem Wettbewerber PedidosYa überlassen. Und Coca-Cola verlegt die Lateinamerika-Zentrale von Argentinien nach Brasilien.
  • Statt sich mit all diesen wirklich wichtigen Problemen zu befassen, bemüht sich die Regierung auf Betreiben von Vizepräsidentin Cristina weiter um die Bereinigung der Justiz von unliebsamen Richtern, die ihr und ihrer Familie in diversen Gerichtsverfahren immer noch nachspüren. Freundlicherweise hat der Oberste Gerichtshof die Entlassung von drei dieser Richter, die von Macri eingesetzt worden waren, erstmal gestoppt – pikanterweise indem der Gerichtshof das Verfahren, das eigentlich in einer unteren Instanz hing, eigenmächtig an sich gezogen hat. Diese Möglichkeit war unter Cristinas zweiter Regentschaft gegen den erbitterten Widerstand der Macristen eingeführt worden. Jetzt feiern die Letzteren sie als Rettungsanker der Republik während die Cristinisten die bösen Richter verdammen.
  • Während die Waldbrände in Kalifornien es auch regelmäßig in deutsche Medien schaffen, gelingt das den Bränden im Zentrum Argentiniens nur selten. Dabei sind die nicht minder schlimm. Seit Monaten ist in der Region kein Regen gefallen, es ist alles extrem ausgetrocknet, ein Funke genügte, und mehrere Provinzen standen in Flammen. Im Jahresvergleich hat die Zahl der Brände in Argentinien in den ersten neun Monaten um mehr als 160% zugenommen (INPE). Besonders gravierend ist die Situation zurzeit in Córdoba rund um den beliebten Urlaubsort Villa Carlos Paz, wo die Flammen inzwischen auch in bewohnte Gebiete vordringen. Ich hoffe, Antjes Nest in Tanti bleibt verschont. Die Feuerwehren sind erschöpft und haben nur unzureichende Ausrüstung um die Siedlungen wirksam zu schützen, viele Bewohner mussten daher bereits evakuiert werden. Aber auch im Rest der Provinz leiden die Menschen unter dichten Rauchschwaden und der ständigen Angst, dass der permanent blasende heiße Wind irgendwo schwelende Brände erneut anfachen könnte. Regen ist für die nächsten zwei Wochen nicht in Sicht, die Situation kann also allenfalls gleich schlimm bleiben.
  • Die kuriose Nachricht zum Schluss: letzte Woche sorgte ein argentinischer Kongress-Abgeordneter für internationale Schlagzeilen, der sich während der per Videochat abgehaltenen Sitzung des Abgeordnetenhauses an den Brüsten seiner Geliebten zu schaffen machte. Offenbar glaubte der Herr sich unbeobachtet. Das kann er ab sofort wieder sein, denn die Abgeordneten warfen ihn kurzer Hand hinaus.

Die „ehrenwerten Brüste der Nation“ titelte Clarín

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2 Jahre Knast für’n Essen bei Mutti

So, heute ist das Fass voll, ich hab lange nur meinen Statistikeintrag über die aktuellen Fallzahlen hier in Argentinien aktualisiert, aber jetzt ist wieder mal ein Themenbeitrag gefordert. Heute veröffentlichte die Regierung im Boletín Oficial, dass ab sofort und prinzipiell im gesamten Bundesgebiet sämtliche sozialen Treffen mit Menschen außerhalb deines eigenen Haushalts verboten sind. Und zwar unter Androhung von bis zu 2 Jahren Knast wegen potenzieller Verbreitung einer Seuche.

Es gibt ein paar Einschränkungen, die festlegen, dass diese Anordnung nur in den Gemeinden gilt, die aktuell in „Stufe 5“ der fünfstufigen Quarantäne-Skala sind (wo COVID also auf unbekannten Wegen und in hoher Zahl weitergereicht wird), aber davon haben wir inzwischen einige. Der ganze Großraum Buenos Aires sowieso, aber auch etliche Großstädte im Inland sowie auch einige mittelgroße, in denen es sehr viele Fälle gibt.

Das Präsidialdekret führt weiter aus, dass kulturelle, religiöse oder zu Erholungszwecken stattfindende Treffen bis zu 10 Personen weiterhin erlaubt sind, wenn sie a) draußen oder b) bei absoluter Beachtung von guter Belüftung und Abstandsregeln von nicht unter 2 Metern stattfinden. Familienfeiern oder auch einfach nur das Sonntagsessen bei Mutti sind aber bei egal welcher Zahl von Teilnehmern verboten, es sei denn, diese Personen leben ohnehin unter einem Dach.

Bin gespannt, wie die Regierung das durchsetzen will, denn de facto ist sie dazu ja auf Denunzianten angewiesen. Oder auf die Blödheit der Leute, die Bilder ihrer Feiern auf Facebook und Instagram teilen. Und ja, die gibt es durchaus. Vor einigen Wochen machte z.B. die Aufzeichnung eines Livestreams von Facebook die Runde, bei der sich eine Gruppe von Lokalpolitikern bei einem Geburtstag während der ersten Stufe unserer Quarantäne gefilmt hatte, und bei dem der Mensch hinter der Kamera laut gröhlend immer wiederholte, dass sie ja jetzt alle in den Knast müssten, hahaha. Tatsächlich interessierte sich die Staatsanwaltschaft anschließend sehr für das Video, aber bei den Politikern handelt es sich um Parteigänger des Präsidenten, ich wage zu bezweifeln, dass denen wirklich Knast oder auch nur ein Bußgeld droht.

Mein Verdacht ist, dass auch die jetzt verkündete absurde Verschärfung der hiesigen Hygieneregeln weniger dazu gedacht ist, tatsächlich die Verbreitung von COVID einzudämmen, sondern vielmehr in erster Linie nach Möglichkeit Medien und Öffentlichkeit mit einem neuen Thema beschäftigen soll, damit die Regierung in Ruhe ihre Justizreform durch den Kongress bringen kann. Und die hat’s in sich. Im Zentrum stehen die Bundesgerichte, die nach Ansicht der Regierung zu stark unter politischem Einfluss stehen und ihr Fähnchen zu stark nach dem Wind drehen. Das ist nicht ganz verkehrt: als es so aussah, als ob Cristina nicht wiederkäme nahmen plötzlich alle möglichen Korruptionsverfahren gegen sie Fahrt auf, nur um nach dem Wahlsieg Albertos plötzlich wieder sehr langsam voranzuschreiten. Umgekehrt tauchten auf einmal etliche Verfahren gegen den früheren Präsidenten Macri auf.

Wäre das aber der einzige Grund, müssten sich die Herrschaften ja eigentlich keine Sorgen machen, zurzeit regieren sie ja schließlich. De facto sind aber vor allem bei den Bundesrichtern in der Hauptstadt nach wie vor etliche der Verfahren gegen Vizepräsidentin Cristina anhängig – und die möchte diese lästige Plage endlich loswerden. Der Trick: man vergrößert einfach die Zahl der Richterposten von 23 auf 46 – allein in der Hauptstadt – und weiteren in den Provinzen. Die kann man dann mit treuen Parteigängern besetzen, die einen flugs von allen Schandtaten freisprechen.

Das zumindest ist die Befürchtung der Opposition – und nicht ganz zu Unrecht. Denn das hat früher sehr gut funktioniert, Cristina hat so während ihrer Amtszeit mehrere Verfahren wegen Bereicherung im Amt abgeschmettert. Die Regierung behauptet zwar, die bereits laufenden Verfahren verblieben bei den Richtern, denen sie schon zugeteilt seien, aber da kann man sicher nach der Reform noch was drehen. Zum Beispiel könnten die Verfahren derart in die Länge gezogen werden (keine Seltenheit hier), dass der zuständige Richter in die Rente entlassen wird oder – Gott bewahre – stirbt und dann ersetzt werden muss.

Oder man findet Verfahrensfehler bei der Besetzung der Richter. Das ist ein zweites Standbein der Reform, mit der aktuell 10 unter der früheren Regierung besetzte Posten als ungültig erklärt werden sollen. Die Verfassung verlange schließlich, dass auch der Senat der Ernennung zustimme, was nicht geschehen sei (im Senat hat die Regierung eine absolute Mehrheit und könnte die Richter problemlos durchfallen lassen). Die Opposition hingegen argumentiert, der Oberste Gerichtshof habe bereits vor Jahren entschieden, dass dies für diese Richterposten nicht notwendig sei. Wer da recht hat…

Womit wir aber beim nächsten Justizorgan wären. Neben den Bundesgerichten steht auch der Oberste Gerichtshof in der Kritik, er „funktioniere nicht richtig„, sei „blockiert“ (Alberto). Wie das bei fünf Richtern sein kann muss er mir allerdings noch mal erklären. Zumal er selbst als Kabinettschef von Nestor Kirchner und Cristina als Senatorin 2003 für genau die Reform verantwortlich waren, die das Oberste Gericht von neun auf fünf Stellen verkleinerten – damals ein hochgelobtes Unterfangen. Offiziell hat Alberto bislang auch immer verteidigt, er wolle gar nicht die Zahl der Obersten Richter erhöhen sondern nur die Blockade beseitigen. Um diesen Schein zu wahren, hat Alberto also erstmal eine Kommission berufen, die in 90 Tagen einen Vorschlag zur Reform des Obersten Gerichts machen soll.

Wes Lied die singen werden kann ich mir schon vorstellen. Eines der elf Mitglieder ist der Rechtsanwalt von Cristina, Carlos Beraldi.

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Die Verwandlung

In Franz Kafkas Verwandlung wacht ein Handelsreisender für Tuchwaren eines Morgens auf und sieht sich in ein „ungeheures Ungeziefer“ verwandelt. Er kann die Wohnung, in der er gemeinsam mit seiner Schwester und seinen Eltern wohnt, fortan nicht mehr verlassen, wird aber zunächst noch von ihnen versorgt. Allerdings gestaltet sich das Zusammenleben zunehmend schwieriger…

Hier in Argentinien verwandelt sich gerade auch etwas – und zwar die Republik.

Kapitel 1

Schon unter der letzten Regierung der Königin von 2011-2015 gab es ja Tendenzen z.B. zur „Demokratisierung“ der Justiz, de facto einer Abschaffung der Gewaltenteilung von Exekutive, Legislative und Judikative. Die Mitglieder des Magistraturrats (Consejo de la Magistratura), der Richterposten besetzt, sollten in Zukunft vom Volk gewählt werden – und dazu bei den nationalen Wahlen auf denselben Wahlzetteln stehen wie die Politiker der verschiedenen Parteien. Warum das eine ganz schlechte Idee ist, erschließt sich natürlich erst, wenn man die hiesigen Wahlzettel kennt: Die druckt nämlich jede Partei selbst millionenfach und verteilt sie in den Stimmbezirken. Statt Kreuzchen zu machen steckt man einfach den entsprechenden Wahlzettel in einen Umschlag und diesen schließlich in die Urne.

Soweit so einfach. Politiker unterschiedlicher Gruppierungen in unterschiedliche Posten zu wählen fällt auf diese Weise aber natürlich erheblich schwerer, als wenn man einfach auf Seite 2 der Wahlzettel sein Kreuz eine Reihe weiter unten oder oben macht wie in Deutschland. Meist kommen die Wahlzettel unverändert in die Urne. Verboten ist das „cortar boleta“ genannte Verfahren natürlich nicht, aber sehr unüblich. Ergo sorgt die Partei mit den meisten Stimmen im Rennen um Exekutive und Legislative auch dafür, die meisten Stimmen im Rat für die Ernennung von Richtern zu besetzen – und damit die Judikative zu bestimmen. Fein, oder?

Cristina konnte sich 2013 damit zwar im Kongress durchsetzen, das Gesetz wurde jedoch anschließend vom Obersten Gericht als verfassungswidrig eingestuft und einkassiert. Aktuell sind aber alle von der Pandemie und täglich steigenden Infektionszahlen abgelenkt, die Justiz befindet sich in Quarantäne und auch der Kongress funktioniert erst ab morgen wieder – da kann man schon mal einen neuen Anlauf wagen. Diesmal geht es – wegen der Probleme beim letzten Mal – natürlich um die Besetzung des Obersten Gerichts und ob dieses aufgestockt und erweitert werden müsse. Einige – vor allem die Kirchneristen in der Regierung – sind da sehr für, vor allem wenn man für die neuen Posten nur die eigenen Leute nimmt (wie auf einer internen Veranstaltung der Lokalpolitiker Alex Durañona letztes Jahr kackdreist vorgeschlagen hat). Der Präsident – immerhin Sohn eines Richters, selbst Rechtsanwalt und Professor für Recht – hält die Erweiterung zwar persönlich nicht für notwendig, will sich aber die Meinung von einigen Experten anhören, bevor er das Thema mit einer Empfehlung ans Parlament zur Entscheidung schickt.

Wichtig ist das Thema Justiz aber vor allem seiner Vizepräsidentin, die das möglichst schnell durch beide Kammern des Kongresses bringen will. Dürfte ihr leichtfallen: Sie sitzt dem Senat vor, ihr Sohnemann ist Mehrheitsführer im Abgeordnetenhaus. Sie hegt einen erheblichen Groll gegen die Justiz, weil dort aktuell noch acht Verfahren gegen sie und ihre Kinder anhängig sind wegen Bereicherung im Amt und ähnlicher Vergehen ihrer früheren Präsidentschaften. Die möchte sie möglichst schnell beigelegt sehen – selbstverständlich mit Freispruch oder – wahlweise – wenigstens Einstellung des Verfahrens. Wenn man darüber hinaus Rache an den pösen Richtern üben kann, umso besser.

Kapitel 2

Die Corona-Pandemie musste auch schon als Ausrede für die Freilassung in den offenen Vollzug von Cristinas ehemaligem Vize Amado Boudou und diverser weiterer ehemaliger Würdenträger herhalten, weil die Enge in den Gefängnissen ja keinen Abstand erlaube. Gesundheitliche Gründe gab es ansonsten eigentlich keine und Boudou, in zwei Verfahren 2018 zu insgesamt 5 Jahren und 10 Monaten verurteilt und mit weiteren anhängig, hätte noch ein paar Jährchen abzusitzen. Für die Kirchneristen war er aber immer ein „politischer Gefangener“, als wenn er nicht wegen Korruption sondern seiner Überzeugung im Knast gesessen hätte. Mit dem Hinweis auf die überfüllten Gefängnisse wird inzwischen aber selbst über die Freilassung von über 2000 weiteren Sträflingen diskutiert, darunter mehrfache Mörder und Vergewaltiger, Leute mit bewaffneten Raubüberfällen oder Entführungen auf dem Kerbholz. Allerdings: zu einer Risikogruppe müssen sie gehören, also z.B. über 65 Jahre alt oder Asthmatiker sein, Bluthochdruck reicht zur Not wohl auch. Die Bevölkerung ist selbstverständlich überwiegend gegen eine Freilassung dieser Personen, darf ja aber wegen der Pandemie nicht öffentlich demonstrieren. Ein paar mal abendliches Topfschlagen war alles an zivilem Unmut was Regierung und Justiz bislang fürchten mussten.

Die Gefangenen werden selbstverständlich wenn überhaupt mit der Auflage des Hausarrests freigelassen – allerdings gibt es nicht genügend elektronische Fußfesseln und Personal, um den auch zu überwachen. Es bleibt also daher nichts anderes als sie dazu zu verpflichten, sich mehrmals in der Woche bei einer Polizeidienststelle in ihrer Nähe zu melden. Den Rest des Tages sind sie sich selbst überlassen. Leute, die z.T. neben oder in der Nähe ihrer Opfer wohnen, die sicher auch einen Groll gegen den einen oder anderen Polizisten oder Justizvollzugsbeamten hegen. Alles in allem in meinen Augen keine wirklich gute Idee, solange es nicht zu nennenswerten Ausbrüchen hinter den Gefängnismauern kommt. Obwohl natürlich auch andere Länder wie der Iran, Türkei oder Frankreich Sträflinge zu Tausenden oder gar Zehntausenden auf freien Fuß gesetzt haben.

Kapitel 3

Das alles ist aber immer noch nur ein Teil des Anschlags auf die Grundfesten der Republik. Am Montag erschien im Boletín Oficial, so etwas wie dem hiesigen Bundesgesetzblatt, das Dekret 457/2020 des Präsidenten, mitunterzeichnet von all seinen Ministern, das es in sich hat: um den Herausforderungen der Pandemie wirksamer begegnen zu können räumt der Präsident dort seinem Kabinettschef (und damit de facto sich selbst) umfassende Vollmachten der Umschichtung von Budgetposten innerhalb des Bundeshaushalts 2020 ein und zwar bis zu 100% des Haushaltsplans (Art. 4 und 6!). Normalerweise darf eine Regierung Haushaltsmittel nur bis zu einem Maximum von 5% umschichten.

Hinzu kommt, dass wir eigentlich gar keinen Haushalt 2020 haben, sondern immer noch mit dem von 2019 arbeiten, weil sich die Parteien Ende vergangenen Jahres nicht rechtzeitig einig wurden einen neuen Haushalt zu verabschieden. Das führte u.a. dazu, das z.B. das neu geschaffene Ministerium für Frauen gar kein Budget hat. Nun darf also Kabinettchef Cafiero Gelder aus dem Haushalt nach Herzenslust herumschieben, wenn er irgendeine Begründung findet, dass das wegen der Corona-Krise wichtig ist, und damit etwas an sich reißen, was in Demokratien ein originäres Vorrecht des Parlaments ist. Die Abgeordneten haben entsprechend schon angekündigt, dass sie diesbezüglich starken Gesprächsbedarf haben, wenn sie ab morgen virtuell im Kongress zusammentreten. So gut wie allen nicht peronistischen Abgeordneten scheint nicht zu schmecken, dass ihnen hiermit ein großer Teil ihrer Daseinsberechtigung entzogen wird.

Epilog

Auch dieses Thema genießt in der Öffentlichkeit nur wenig Aufmerksamkeit, nur wer wie ich gerade viel Zeit hat, bekommt bei dieser Umschau einen Eindruck davon, was da gerade abläuft: In meinen Augen eine Verwandlung des demokratischen Rechtsstaats zu einer Diktatur ohne Recht und Gesetz. Wie bei Gregor Samsa in Kafkas Kurzgeschichte schreitet die Verwandlung in Etappen voran bis der Protagonist am Ende stirbt. Kafkas Erzählung endet zwar mit einem fröhlichen Ausflug seiner Restfamilie ins Grüne vor die Stadt. Ich befürchte, die argentinische Verwandlung führt eher in venezolanische Abgründe…

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Applaus, Applaus, Applaus!

Wenn es noch irgeneines Beweises bedurft hätte, dass hiesige (hiesige?) Politiker in erster Linie an sich selbst und die eigene Klientel denken, dann ist das wohl das hier: in derselben Woche, in der bekannt wurde, dass Vize- und Senatspräsidentin Kirchner gemeinsam mit dem Vorsitzenden des Unterhauses Sergio Massa eine Zusatzzahlung von 2.300 Pesos pro Tag für die Kongressangestellten beschlossen haben, die wegen ihrer Präsenz vor Ort im Kongressgebäude schließlich besonderen Gefahren wegen Corona ausgeliefert gewesen sein sollen (welchen?), wird auch bekannt, dass Ärzten und Pflegern in den privaten Kliniken das Gehalt um 12 bis 50% gekürzt wird. Ja, man glaubt es kaum: die so genannten „essentiellen Dienstleister“, die ohnehin schon ein eher mageres Grundgehalt von um die 45.000 Pesos (~600 Euro) im Monat beziehen, sollen zusätzlich zum erhöhten Risiko des Dienstes mit unzureichender Schutzausrüstung während einer Pandemie auch noch auf Gehalt verzichten. Na ja, schließlich applaudieren die Argentinier ja allabendlich, da gleicht sich das aus…

Grund ist die seit fast zwei Monaten geltende Verpflichtung der Krankenhäuser und Kliniken, so viele Betten wie möglich für Corona-Patienten freizuhalten. Was natürlich bei gleichzeitiger Ausgangssperre und inzwischen Maskenpflicht und eben deswegen ausbleibender exorbitanter Patientenzahlen dazu geführt hat, dass in den Hospitälern Tausende Betten leer stehen, Ärzte und Pfleger nix zu tun und die Klinikleitungen nichts zum Abrechnen haben.

De facto soll nach Ansicht der Kliniken der Staat über die Rentenversicherung ANSES jetzt die Zeche zahlen. Schließlich sei der Leerstand ja politisch verordnet. ANSES aber zahlt notorisch verspätet, wenn überhaupt. Ich kenne etliche Rentner, die ihre Rente erst in jahrelangen Zivilprozessen einklagen mussten. Sofern sie die Zeit bis zum Urteilsspruch überlebt haben, kriegen sie natürlich alles auf einmal und sogar mit einem gewissen Inflationsausgleich, aber für ANSES ist diese Vorgehensweise wahrscheinlich trotzdem von Vorteil. Die Mitarbeiter im Gesundheitswesen kennen diese Probleme selbstverständlich auch und sind entsprechend besorgt im Hinblick auf ihre finanzielle Situation. Hier, aus einem Whatsapp-Kettenbrief von heute:

„Ich war heute im Supermarkt und habe eingekauft: Lebensmittel und Dinge des täglichen Bedarfs. Die Kassiererin sagte: Macht 10.000 Pesos. Ich hab sie angelächelt und ihr applaudiert. Mit einem schiefen Lächeln fragte sie: Was machen Sie da? Ich zahle meine Rechnung, sagte ich. Das ist der Lohn, den ich täglich für meine Arbeit erhalte. Aber ich begriff, dass ich so nicht meine Rechnung bezahlen konnte.

Ich kam nach Hause und fand dort die Kreditkarten-Abrechnung mit der Zahlung für die Privatschule meiner beiden Kinder – einer Schule, auf der sie schon seit zwei Monaten nicht mehr waren. Ich rief dort an und applaudierte, um die Beiträge zu begleichen. Man sagte mir, man sei zwar dankbar für den Applaus, aber damit könne man nicht die Gehälter von Lehrern und Angestellten der Institution bezahlen. Sie hatten natürlich recht.

Ich erhielt eine Whatsapp-Nachricht aus einer Gruppe von Ärzten von meiner Arbeitsstelle, ich solle meinen Anteil an der Schutzausrüstung bezahlen, die wir privat bestellt hatten, um uns nicht mit COVID-19 zu infizieren. In einem ebenfalls per Whatsapp geteilten Video zeigte eine Kollegin stolz, wie sie aus Müllbeuteln mit Hilfe ihres Lockenstabes und entsprechender Schnittmuster Schutzkittel herstellt.

Es war 21 Uhr und der tägliche Applaus brandete durch die Straße. Ich schaltete den Fernseher ein, wo ein Journalist darüber informierte, dass das angesehene Hospital Italiano seinen Angestellten das Gehalt um 12% kürzt. Andere Institutionen seien auf einem ähnlichen Weg, hieß es. Währenddessen sollen die Angestellten des Kongresses _pro Tag_ Präsenzarbeit im Kongress einen Bonus von 2.300 Pesos erhalten – zusätzlich zu ihrem Grundgehalt. Macht pro Mitarbeiter einen Bonus von durchschnittlich 70.000 Pesos.

Entsprechend angefressen hab ich auf meinem Lohnzettel nachgeschaut, ob sie mir wenigstens die für vier Monate versprochenen 5.000 Pesos Pandemie-Sonderzahlung _pro Monat_ überwiesen hatten. Sie hatten nicht.

Mein Sohn bemerkte meine Traurigkeit und fragte: Papa, würdest du nochmal Arzt werden? Ich sagte, ja, ich würde immer wieder Arzt werden, aber das bedeutet nicht, dass ich umsonst arbeiten kann. Ein Spezialist hat 12 Jahre Studium und Fortbildungen in sein Können investiert und medizinische Fehler können mit Millionenstrafen und sogar Gefängnis geahndet werden. Aber vom Arzt verlangt man, dass er seinen Beruf aus Berufung ausübt.

Ich bitte euch als Gesellschaft: lasst uns nicht allein.“

Anonym

Die Linke Tageszeitung beeilte sich darauf hinzuweisen, dass keine der privaten Kliniken irgendwelche Berechnungsgrundlagen vorgelegt habe, auf deren Basis man die Verluste der Unternehmen und damit die Kürzungen der Gehälter rechtfertige. Außerdem gehörten einige der Kliniken einigen der reichsten Argentinier, die offenbar weder für eine adäquate Ausstattung ihrer Krankenhäuser noch für angemessene Bezahlung ihrer Angestellten einstehen wollten.

Das mag so sein. Und ich komme bei ca. 20 Arbeitstagen im Monat auch nicht auf 20 x 2.300 = 70.000, wie der Mediziner oben. Aber dass die Mediziner hier den Entscheidern in der Politik außer ein bisschen Applaus nichts wert sind, glaube ich lässt sich nicht bestreiten. Ich hab selbst Ärzte in der Verwandt- und Bekanntschaft und weiß, dass da nur was hängen bleibt, wenn sie Ober- oder Chefärzte geworden sind und möglichst viele möglichst teure Operationen durchführen. Ärztestreiks sind insbesondere im öffentlichen Gesundheitswesen eine regelmäßig wiederkehrende Erscheinung, allerdings meist ohne Folgen – denn der Notdienst für dringende Fälle bleibt immer gewährleistet.

Ganz anders springen da die Politiker, wenn die LKW-Fahrer oder – Gott bewahre – die Müllmänner streiken. Denn die können das Land wirklich lahmlegen. Wahrscheinlich beziehen sie deshalb ähnliche Löhne wie die Ärzte. Aber sie kriegen weniger Applaus.

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Jetzt ist Ruhe

Wir sind heute den dritten Tag in Quarantäne und so langsam gewöhnt man sich dran. Am ersten Tag hatten viele noch kein richtiges Gefühl dafür entwickelt, was Quarantäne eigentlich bedeutet: zuhause bleiben. Viele hielten das offenbar immer noch für Ferien und versuchten, die Hauptstadt zu verlassen, wie dieses Video eines Arztes belegt, der in einem Einsatz 1,5 Stunden im Stau stand, und auf der Rückfahrt seine Landsleute dabei filmte, wie sie ihre „Quarantäne“ auf der Autobahn raus aus der Stadt verbrachten:

Er beschwert sich zwar, wo denn bitte die Polizei sei, die die Ausgangssperre ja eigentlich durchsetzen soll, tatsächlich ist der Stau aber nur deshalb so lang, weil an einer Mautstation Gendarmen tatsächlich kontrollieren. Was mit denen passierte, die keinen triftigen Grund für ihre Fahrt vorweisen konnten, weiß ich nicht.

Als ich das Video gestern per Whatsapp erhielt, hab ich mal bei Google-Maps gesucht, ob es an der Stelle wirklich einen Stau gibt und auf diese Weise festgestellt, dass das Video wohl schon einen Tag alt war. Tatsächlich fand ich später auf Youtube auch eine Version, die schon am frühen Morgen des gestrigen Tages hochgeladen worden war, die Bilder konnten also nur vom Freitag sein.

Auch eingekauft wurde am Freitag und Samstag immer noch fleißig – mit bisweilen etwas absurden Szenen. Weil die Supermärkte aus Sicherheitsgründen immer nur eine bestimmte Zahl Kunden in die Läden ließen, bildeten sich auf der Straße teilweise mehrere Blocks lange Schlangen. Der Mindestabstand von 1,5-2 Metern wurde dabei nach meinem Eindruck aus den Medien nur selten eingehalten.

Dort machen auch andere Geschichten die Runden, wie etwa die des 24jährigen, der am Dienstag aus den USA zurückkam und – statt sich in 14tägige Quarantäne zu begeben, die schon damals für Reiserückkehrer galt – am Mittwoch an einer Geburtstagsfeier mit 100 Gästen teilnahm. Er wurde positiv getestet, trug das Virus also mit sich. An mindestens neun Personen hat er es weiter gegeben. Das hat für ihn ein teures juristisches Nachspiel, denn seine Unterbringung in Isolation sowie diejenige der infizierten Personen geht auf sein Konto. Abgesehen von einer Strafanzeige und womöglich Haft. So einen ähnlichen Fall haben wir gleich in der Nachbarschaft: eine junge Frau, die normalerweise in Schweden lebt, wollte angesichts der Epidemie dort wohl lieber zuhause bei  ihren Eltern hier in Lomas sein. Um die Fieberkontrollen am Flughafen zu überlisten, nahm sie eine hohe Dosis Ibuprofen, hielt sich aber auch danach nicht an die Quarantäne für Rückkehrer. Sie hat wahrscheinlich nicht nur ihre Eltern angesteckt, sondern auch Personen im Blutanalyse-Labor, das diesen gehört und das sie angeblich auch aufgesucht hat. Das dürfte ebenfalls noch ein Fall für die Justiz werden.

Ebenso wie der der Busfahrer von zwei Fernbussen aus Brasilien, die kurz vor Ankunft in Rosario noch ihre Herkunftsschilder wechselten, um die Quarantäne für die Passagiere zu vermeiden. Statt aus Rio bzw. São Paulo kamen sie angeblich aus Mar del Plata. Involviert waren wohl auch zwei Passagiere, die nicht in die zweiwöchige Isolation wollten. Beides allerdings vor der generellen Ausgangssperre, die nach Medienberichten überwiegend befolgt wird. Einige Ortschaften haben ihre Hauptverkehrsstraßen sogar mit Erde zugeschüttet, um sicherzustellen, dass kein Verkehr mehr fließt – ein zweischneidiges Schwert, wie ich finde, denn natürlich kommen da auch Rettungswagen nicht mehr durch.

Lastwagen kippt Erde auf eine Straße zwischen Ezeiza und Esteban Echeverría

Aus eigener Anschauung kann ich sagen, dass es hier in meinem Vorort weitgehend ruhig ist. Vor allem nachts gibt es so gut wie keinen Verkehr. Ab und zu spaziert ein Nachbar mit seinem Hund vorbei oder geht jemand mit ’nem Hackenporsche zum Einkaufen. Da hab ich gestern insbesondere etliche Rentner gesehen, die es offenbar nicht aushalten können, alleine zuhause zu sitzen. In diesem Moment fliegt ein Flugzeug mit Lautsprecheransagen über uns hinweg mit der Ansage, man solle doch bitte zuhause bleiben und die Ausgangssperre befolgen.

Vor einer Außenstelle des Gesundheitsamts ein Stück weit die Straße runter ist unsere Straße gesperrt. Als wir vorhin mit dem Hund da auf dem Weg zur Tierärztin vorbeiliefen, standen und saßen da 20+ Sanitäter, alle ohne Mundschutz und mit Abständen von deutlich unter einem Meter um ein paar Tische herum, und machten sich das Ganze bei schönstem Wetter zu einer Art Straßenfest. Go figure. Kontrolliert wird da nach meinem Eindruck wenig, uns haben sie nicht mal zwei Blicke zugeworfen. Auch davon, dass mehr Polizeipräsenz auf der Straße wäre, merke ich nichts, im Gegenteil. Offizielle Stellen haben aber angekündigt, dass sie ab heute sehr viel restriktiver sein werden was den Aufenthalt außerhalb der eigenen vier Wände angeht. Wer keine Begründung dafür vorweisen kann, warum er mit seinem Auto unterwegs ist, dem kann dieses u.U. beschlagnahmt werden und es gibt eine Strafanzeige. Verstoß gegen die Ausgangssperre ist de facto ein Straftatbestand.

Vielleicht ist unser Viertel aber auch nicht unbedingt ein Brennpunkt der Sorge. Schlimmer sind wahrscheinlich die Viertel, in denen mehrere Personen in einem Bretter- oder Wellblechverschlag hausen, der eigentlich wirklich nur als Dach über dem Kopf dient: kein fließendes Wasser (immer noch bei rund 15% der Haushalte im Großraum Buenos Aires der Fall), kein Abwassersystem (>30%!) sondern nur eine Sickergrube, entsprechend schlechte sanitäre Bedingungen. Wenn da auf 15 Quadratmetern jetzt sechs oder mehr Personen für rund zwei Wochen eingesperrt werden sollen, wird das kaum funktionieren. Die Bewohner leben meist von Gelegenheitsarbeiten, einen festen Job hat da kaum jemand. Wer nicht arbeitet, hat nichts zu essen. Immerhin hat die Armee inzwischen begonnen, Essen an diese ärmsten Haushalte zu verteilen, wenn auch zunächst nur für vier Tage, wie es aussieht. Deshalb wird natürlich auch während der Ausgangssperre das „Haus“ verlassen und z.B. irgendwo anders Rasen gemäht oder auf dem Bau gearbeitet. Unser Nachbarhaus wird gerade renoviert und zumindest diese Bauarbeiter waren auch am Freitag da. Wenn das Virus es in diese Haushalte schafft…

Schon gestern sind die Zahlen der Infizierten in Argentinien so stark gestiegen wie nie zuvor: 67 neue Fälle, 225 insgesamt im Land. Bei immerhin 24 der Infizierten war der Ansteckungsweg nicht ohne Weiteres nachzuvollziehen, die anderen waren im Ausland gewesen oder hatten Kontakt zu anderen Infizierten. Das könnte bedeuten, dass das Virus sich langsam auch in der Gesellschaft verbreitet. Mit Pech gehen wir den Weg Italiens und Spaniens. Mit etwas Glück wurde die Ausgangssperre noch gerade rechtzeitig verhängt, um eine schnelle massive Verbreitung zu verhindern.

Das wäre sehr wichtig, denn wir haben da noch eine zweite Gesundheitsgefahr, die sich hier schon seit Jahren immer weiter ausbreitet: Dengue. Und da sieht die Situation aktuell auch nicht rosig aus. Allein im letzten halben Jahr wurden landesweit 6991 Fälle von Verdacht auf Dengue gezählt, von denen sich 1743 tatsächlich als Dengue herausstellten. Mehr als die Hälfte davon bei Personen, die nicht in ein Risikogebiet gereist waren – das heißt, das Virus ist inzwischen in vielen Landesteilen endemisch. Diese Infektionen haben seit der siebten Kalenderwoche 2020 die importierten Fälle deutlich überholt, was den Behörden hier die meisten Sorgen bereitet. Die meisten Fälle registrierten die Hauptstadt und das Umland mit 377 und 380 respektive, je etwa zur Hälfte importiert und einheimisch. Bis Anfang März gab es in diesem Zeitraum drei Tote durch das Dengue-Fieber.

Die Zahl der durch Insekten übertragenen Virenkrankheiten wie Dengue, Gelbfieber, Zika oder Chikunguya hat damit inzwischen die Zahlen der vorangegangenen Jahre um das Doppelte übertroffen (s. Grafik):

Liniengrafik über die Meldung von Arboviren pro Woche zwischen den Wochen 31 und 30 der Jahre 2017 bis 2020

Arboviren-Meldungen pro Woche zwischen den Wochen 31 und 30 der Jahre 2017 bis 2020; aus dem Boletín Integrado de Vigilancia 10/2020 des Gesundheitsministeriums

Und im Gegensatz zur Nordhalbkugel, wo gerade der Frühling angefangen hat, starten wir in den Herbst und Winter – mit per se höheren Krankenständen z.B. durch Grippeviren. Nicht, dass das hier angesichts der heutigen 29°C schon spürbar wäre. Aber neben den ganzen Vorräten, mit denen wir den Tiefkühlschrank gefüllt haben, habe ich diese Woche auch schon mal vorsorglich eine Fuhre Holz für den Kamin besorgt. Man weiß ja nie…

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Ausgangssperre

Schon vor einigen Tagen hat die argentinische Regierung unter Capitán Beto  überraschend drastische Maßnahmen ergriffen, um eine Ausbreitung des Coronavirus in Argentinien zu verhindern. Zentraler Punkt: möglichst zuhause bleiben, Kontakt vermeiden, wer kann, soll von zuhause arbeiten (wie überall).

Allerdings zeigten diese Vorgaben nicht  die erhoffte Wirkung. Zwar sind Kindergärten und Bildungseinrichtungen sowie Clubs geschlossen, aber zumindest Jugendliche und junge Erwachsene sehen das eher als verlängerte Ferien, treffen sich nach wie vor in Cafés und Restaurants. Manch andere muss man geradezu gewaltsam von der Arbeit abhalten. Einen Mann mit 38,5 Grad Fieber, der nach eigener Aussage kürzlich Kontakt mit Italienern hatte, hat man heute an einer Mautstelle auf der Fahrt zur Arbeit abgefangen und zur Umkehr gezwungen. Wie dumm kann man sein?

Und zum anstehenden langen Wochenende hatten sich bereits Tausende Menschen aus Buenos Aires auf den Weg gemacht an die Küste, so viele, dass die dortigen Urlaubsorte sich teilweise kurzerhand selbst abriegelten und keinen mehr reinließen. Auch auf der Autobahn und anderen Straßen dorthin gibt es inzwischen Sperren, an denen die Fahrer zur Umkehr genötigt werden, wenn sie keinen triftigen Grund für ihre Fahrt vorweisen können.

Heute Abend nun hat sich Präsi Fernandez mit den Gouverneuren des ganzen Landes verabredet, um ab Mitternacht eine komplette Ausgangssperre in Kraft zu setzen. Noch ist nicht ganz klar, auf welcher rechtlichen Basis diese erfolgen wird (ein Ausnahmezustand wie im Krieg mit Außerkraftsetzung von Grundrechten der Bürger oder eine Nummer kleiner), aber deutlich wird bereits folgendes:

  • Niemand darf mehr zur Arbeit, mit Ausnahme von Polizei, Feuerwehr, Militär, Gesundheitsdienst, dem öffentlichen Dienst, sofern sie aktuell dringend benötigt werden sowie Beschäftigten im Lebensmittelhandel und in Apotheken sowie in der dafür nötigen Logistik.
  • Krankenhäuser stellen den normalen Betrieb mit Sprechstunden und programmierten Eingriffen ein und halten neben der Versorgung von COVID-19-Patienten nur noch einen Bereitschaftsdienst für Notfälle offen.
  • Wir alle dürfen nur noch raus um Lebensmittel und sonstige Dinge des täglichen Bedarfs einzukaufen oder in einem medizinischen Notfall.
  • Staat und Provinzen garantieren für die Grundversorgung der Bevölkerung mit Nahrungsmitteln in Läden und Supermärkten im Land.
  • Alle Grenzen werden geschlossen, sofern sie das nicht schon sind. Sie bleiben lediglich offen für den Warenverkehr. Auch öffentliche Verkehrsmittel werden nur eingeschränkt verkehren.
  • Es wird Kontrollen geben, sowohl innerhalb von Ortschaften als auch auf Fernstraßen, um die Bewegungsfreiheit so weit wie möglich einzuschränken.

Das Ganze soll für mindestens 10 Tage gelten, möglicherweise auch über Ostern. Damit sind wir glaube ich von den Maßnahmen her auf dem Niveau von Italien, die uns aber mehr als 40.000 Ansteckungen und 3400 Tote voraus sind. Aktuell (Stand: gestern abend) hatten wir offiziell 97 Infektionen, drei Tote.

Angesichts dessen kann man den Großalarm hier für übertrieben halten. Andererseits ist ja eben die Isolation das einzig wirksame Gegenmittel gegen SARS-CoV-2, das es momentan gibt. Mein Eindruck ist, dass die argentinische Regierung nicht abwarten will, bis das Virus sich wirklich eingenistet hat und sich in der Gesellschaft verbreitet wie das in Europa (und wohl auch den USA) der Fall ist. Eine so weit verbreitete Epidemie wie dort würde das hiesige Gesundheitssystem nicht verkraften. Die einschneidenden Maßnahmen sind insofern verständlich.

Dennoch werden wohl die Fallzahlen in den nächsten Tagen noch massiv ansteigen, denn bislang wurden allenfalls hunderte Tests durchgeführt und zudem wurden alle Proben zentral in Buenos Aires im völlig überlasteten Instituto Malbrán ausgewertet, das inzwischen mehrere Tage hinterherhinkt. Es sind aber bereits bis zu 34 dezentrale Anlaufstellen in Vorbereitung, die das Malbrán schon ab dem kommenden Wochenende unterstützen sollen. Argentinien hat sich angeblich das Material für 50.000 Tests gesichert und dieses landesweit verteilt. Die Zahl der Tests soll ab spätestens nächster Woche schnell steigen. Vorbild: Südkorea.

Hinsichtlich der Ausgangssperre gibt es natürlich noch viele Unklarheiten. Darf ich noch alleine mit dem Hund spazieren gehen, oder muss ich dem jetzt die Benutzung des Katzenklos beibringen? Gelten meine Zahnschmerzen als medizinischer Notfall und wenn ja, wo gehe ich dann hin, wenn meine Zahnärztin keine Sprechstunden mehr anbieten darf? Wer repariert mir den kaputten Computermonitor, den ich für meine Heimarbeit brauche? Oder gilt ein Neukauf als „täglicher Bedarf“? Und: Was passiert eigentlich bei Verstößen gegen die Auflage, zuhause zu bleiben? Wendet die Polizei oder womöglich das Militär dann Gewalt an?

Das sind nur einige Fragen, die mich persönlich gerade beschäftigen. Ich bin sicher, es gibt noch viel mehr. Eine solche Situation hat niemand je erlebt, es gibt also keine Erfahrungswerte. Einfach wird das nicht.

 

 

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Argentinien ergreift überraschend drastische Maßnahmen gegen COVID-19

Vor einem Monat bestand die argentinische Prävention hinsichtlich des Corona-Virus, aka SARS-CoV-2, noch daraus, über die Chinesen und ihre drastischen Maßnahmen zur Eindämmung der Epidemie zu spotten. Inzwischen wurden auch hier die Schulen und Universitäten geschlossen, Bürger über 65 wurden gebeten, sie sollten sich möglichst nur zuhause aufhalten und nur die nötigsten Dinge außer Haus erledigen, die Grenzen ins Ausland sind weitgehend dicht, Touristenmagnete wie Nationalparks geschlossen, selbst über einen kompletten Stillstand des öffentlichen Lebens à la Italia wurde diskutiert.

Bei – Stand heute 20:00 Uhr – 56 Fällen im Land. In Worten: sechsundfünfzig. Auf 45 Millionen Argentinier sind das 0,00012% der Bevölkerung. Von denen sich ein Großteil auf irgendwelchen Reisen im Ausland angesteckt hat, lediglich eine handvoll Leute hat sich das Virus hier im Land eingefangen. Es gibt noch ganze Provinzen hier, in denen kein einziger Fall bekannt ist. Selbst die elf Fälle in der Provinz Buenos Aires – nach der Hauptstadt am stärksten betroffen – sind angesichts der Fläche (Deutschland minus Niedersachsen) natürlich lächerlich wenig.

Allerdings, und das gehört genauso zur Wahrheit, wäre die Bekämpfung einer Epidemie mit mehreren Tausend Infizierten wie in Europa in Argentinien von vornherein zum Scheitern verurteilt. Das Gesundheitssystem arbeitet ohnehin schon an seiner Belastungsgrenze oder jenseits davon, noch dazu unterscheidet sich die Versorgung je nach Klassenzugehörigkeit sehr (siehe meine Zeitreise durchs Gesundheitssystem von 2012; daran hat sich glaube ich nicht viel geändert). Argentinier sind noch dazu große Individualisten, die einen Scheißdreck tun, wenn sie keiner dazu zwingt. Gut illustriert durch diesen vor kurzem aus den USA zurückgekehrten Herrn, der einen Wachmann verprügelt, weil dieser ihn gebeten hatte, seine obligatorische vierzehntägige Quarantäne einzuhalten:

Ähnlich wie dieser Herr wollen sich viele aus dem Ausland zurückgekehrte Argentinier nicht an die Auflage halten, sich 14 Tage nach ihrer Rückkehr nur zuhause aufzuhalten. Sie sind ja nicht krank. Die Telefone bei der Einwanderungsbehörde (die dafür offensichtlich zuständig ist) stehen angeblich nicht mehr still, weil besorgte Nachbarn die uneinsichtigen Rückkehrer verpetzen. Bei Kontrollen sind schon etliche Verstöße gegen die Bestimmung aufgeflogen. Argentinier, die dagegen verstoßen, können im Höchstfall bis zu 15 Jahre in den Knast wandern, wenn sie überführt werden, wissentlich und absichtsvoll eine gefährliche und ansteckende Krankheit verbreitet zu haben. Wer das nur in Kauf nimmt, kann aber auch mit 5.000-100.000 Pesos Geldstrafe davonkommen (~70-1400 Euro).

Die Auflage gilt im Übrigen auch für Ausländer, die als Touristen eingereist sind. Das sorgt natürlich für viel böses Blut, weil die Leute in ihrem Urlaub ja nicht nur im Hotelzimmer sitzen wollen. Ein Paar aus England wollte partout nicht einsehen, dass sie bitte schön auf ihrem Zimmer bleiben sollten. Ihnen droht nun die Ausweisung. Inzwischen dürfte sich das Problem durch die Grenzschließung für Einreisende aus Europa, Asien und den USA, seit heute auch den nördlichen Nachbarländern, weitgehend erledigt haben.

Ein weiteres Zeichen dafür, dass viele Argentinier bisher zumindest wenig verstanden haben, dass es ein Problem ist, wenn sie den Staat in dieser Frage herausfordern, wie sie es in allen anderen Fragen – von den Steuerzahlungen bis zu Geschwindigkeitsübertretungen – seit jeher gewohnt sind, sind die privaten Parties die statt der Feiern in Bars und Diskotheken jetzt am Wochenende stattfanden. Hier in der Nachbarschaft war zum Glück Ruhe, aber mein Schwiegervater klagte über laute Musik bis gegen 6 Uhr morgens. Klar, junge Leute sind es hier gewohnt, sich am Wochenende ab Mitternacht in irgendwelchen Clubs die Nacht um die Ohren zu schlagen und dafür den Samstag und Sonntag zu verpennen. Seit Freitag sind die Tanzschuppen aber dicht. Und statt mit seinen Alten zuhause zu sitzen und allenfalls per Whatsapp Kontakt zu Freunden zu halten, feiert man eben irgendwo privat. Ab morgen sind auch die Schulen zu, das wird daher wohl auch unter der Woche üblich.

Da können die Politiker noch so lange betonen, dass das ja keine Ferien seien (die hier ja ohnehin gerade erst seit zwei Wochen vorbei sind), sondern in Kürze Online-Lernformen zur Verfügung stünden und eben nur nicht im Klassenverbund gelernt werde. Eher gar nicht, ist da wohl die Devise. Problematisch ist das natürlich auch für Eltern, denn solange hier keine generelle Quarantäne gilt, müssen die zur Arbeit – nur wer betreut dann die lieben Kleinen so lange? Oma und Opa, natürlich. Die ja eigentlich ihre Sozialkontakte so stark wie möglich einschränken sollen. Ob sie das so richtig durchdacht haben?

Dass die hiesigen Politiker so einiges selbst noch nicht verstanden haben macht folgendes Video deutlich. Der Herr links im Bild ist der Bürgermeister der Hauptstadt Horacio Rodriguez-Larreta, der rechts Moderator irgendeiner Fernsehshow, der gerade lang und breit erklärt, dass man ab sofort eben nicht mehr in die Hand hustet und niest, sondern in die Armbeuge. Watch:

Das Ding ging logischerweise binnen Stunden viral. Ebenfalls viral ging ein schon älteres Video (mindestens 2016, eher noch älter) dreier uniformierter Damen aus Mexiko oder Kolumbien, die sich zu einer dämlichen Hintergrundmusik und einem noch dämlicheren gemalten Hintergrund … sagen wir rhythmisch bewegen und dabei demonstrieren, wie man sich richtig die Hände wäscht („así, así, así, así“). Hübsch auch der „Refrain“: „Muere, bacteria, muere!“ („Stirb, Bakterie, stirb!“):

Allerdings wurde dieses Video eingebettet in die aktuelle Corona-Hysterie, im Anschluss an Bilder von beeindruckenden Gaskanonen, mit denen offenbar irgendwo in Asien irgendwas bekämpft wird (nicht unbedingt das Corona-Virus, auch das können ältere Aufnahmen sein). Im Video werden anschließend die drei Damen vorgezeigt um zu demonstrieren, dass im Gegensatz zu China, die hiesigen Behörden nichts zustande bringen, als solch wirklich bekloppte Videos zum Händewaschen zu produzieren. Dabei ist die Quelle des Videos ganz sicher nicht Argentinien und meines Wissens hat auch kein hiesiger Politiker dieses Video verbreitet.

Ich hab noch eine andere Version dieses Videos, in dem am Fuß desselben noch politische „Werbung“ meiner Heimatstadt Lomas de Zamora eingebaut wurde, als wenn die hiesigen Lokalpolitiker das Video produziert oder verbreitet hätten. Auf den offiziellen Kanälen ist es jedoch zumindest aktuell weder bei Twitter noch Facebook zu finden.

Aber auch, wenn manche Leute es einfach nicht lassen können, falsche Informationen zu verbreiten, haben zumindest die verantwortlichen Politiker hier für den Moment ihre Differenzen weitgehend beiseite gelegt und widmen sich der Bekämpfung des Corona-Virus. Und ich muss zugeben, dass Capitán Beto Fernandez dabei eine ganz gute Figur macht. Im Gegensatz zu Macri oder dessen Parteifreund Larreta (s.o.) leistet er sich keine wirklich schlimmen Schnitzer der politischen Kommunikation, sondern strahlt im Gegensatz Ruhe und Besonnenheit im Angesicht der Krise aus, trifft andererseits aber durchaus unpopuläre Entscheidungen, weil er sie für richtig und wichtig hält. Dazu gehört sicher die Aussperrung aller Ausländer aus Asien, Europa und Nordamerika, denn diese Touristen lassen in der Regel eine Menge Geld im Land, das den betroffenen Menschen und Unternehmen, die davon leben, sicher sehr fehlen wird. Gleichzeitig ist es die einzig vernünftige Entscheidung, wenn man davon ausgeht, dass das Gros der hiesigen Infizierten sich tatsächlich im Ausland angesteckt hat und es allenfalls um diese Rückkehrer herum kleine Infektionsherde im Land gibt.

Ich habe da allerdings meine Zweifel. Die Maßnahmen, die die Regierung an diesem Wochenende angekündigt hat scheinen mir alle zu drastisch, als dass sie auf der Basis von 0,00012% der argentinischen Bevölkerung getroffen würden. Meine Vermutung ist, dass auch der hiesigen Führung klar ist, dass das tatsächlich nur die Spitze eines möglicherweise ziemlich großen Eisbergs ist. Denn davon, dass hier flächendeckend getestet würde kann keine Rede sein. Nicht mal alle Verdachtsfälle sind bislang wirklich gründlich überprüft worden. Mehr als Fiebermessen war bei vielen nicht. Es könnte daher eine ziemlich große Dunkelziffer im Land geben von Leuten, die womöglich das Virus schon mit sich herumschleppen, davon aber noch keine Ahnung haben. Angesichts der hiesigen Küsschen- und Mate-Kultur stelle ich mir die Übertragung von Person zu Person sehr einfach vor. Und wenn man diese Faktoren in die Rechnung einbezieht, ergeben natürlich auch die rigorosen Maßnahmen einen Sinn.

An diesen möglicherweise düsteren Aussichten zu verzweifeln bringt ja aber nix. Mir imponieren da die Italiener, die sich trotz ihrer ja wirklich deutlich schlechteren Bedingungen allabendlich zum gemeinsamen Singen an Fenstern und auf den Balkonen treffen. Da schmettert die ganze Nachbarschaft die Nationalhymne, die kann jeder; oder irgendwelche Schlager, wo jeder so viel singt wie er kann. Gänsehaut.

So weit wird’s hier in den Außenbezirken kaum kommen. Wir müssten bei Grundstücksgrößen von mehr als 500qm schon sehr schreien, damit aus unseren Nachbarn ein Chor wird. In der Innenstadt kann ich mir das schon eher vorstellen – allerdings mit Einschränkungen. Die Argentinier sind zwar vielfach italienischer Abstammung – aber sie sind leider trotzdem überwiegend erstaunlich schlechte Sänger. Gänsehaut krieg ich da schon immer bei Geburtstagsständchen, wenn auch aus anderen Gründen…

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Verwählt

Knapp ein Viertel der Wahlberechtigten wählt einen Faschisten. In Thüringen.

Die Parteienlandschaft splittert sich zusehends auf, auch hier stärkt das eine rechtsextreme Partei und es kommt zu einer Stichwahl. In Uruguay.

Und hier? Hier wählt das Wahlvolk einen Sozialdemokraten (!), der für eine Mitte-Links-Gruppierung antritt, mit seiner von zahlreichen Korruptionsskandalen behafteten Vizepräsidentin im ersten Wahlgang mit 48% ins Amt. Die bisherige Regierungspartei wird mit gut 40% zur größten Opposition. Dritte Parteien kommen fast nicht vor. Von wegen Zersplitterung.

Hier ist die Rede von der Spaltung der Gesellschaft in die einen und die anderen, dem Riss, der grieta, der Familien auseinandertreibt und Freundschaften zerstört. Stell ich mir ähnlich vor wie die Spaltung in den USA in Trumpisten und Vernünftige. In meinem persönlichen Umfeld von Familie und Freunden hab ich keine Anderen, nur noch ein paar von denen dazwischen, die mal mit den einen und mal mit den anderen stimmen. Das ist alles schon schön getrennt. Und, nur um das nochmal klar zu stellen: Jemand, der mit Cristina auf einem Wahlzettel steht, kann nicht mein Präsident sein, auch wenn er noch so sehr betont, die Aufteilung in die Einen und Anderen habe jetzt ein Ende, ab sofort gebe es nur noch Argentinier. Ab dem 10. Dezember, wenn der Neue sein Amt antritt, gehöre ich also zu den Anderen.

Nicht, dass ich mit Macri zufrieden gewesen wäre, bei Weitem nicht. Der Mann ist Millionärserbe und hat überhaupt nicht begriffen, was seine Politik bei normalen Menschen für Auswirkungen hatte. Erst nach den Vorwahlen im August schien er plötzlich aufzuwachen und zu merken, dass die Leute ihn nicht nur deswegen wählen werden, weil die anderen so viel Dreck am Stecken haben (von dem er im Übrigen auch nicht ganz frei ist, siehe Panama Papers).

Plötzlich waren – teilweise bis Ende des Jahres befristete – Maßnahmen möglich, wie eine Mehrwertsteuersenkung auf Lebensmittel des täglichen Bedarfs, der Mindestlohn wurde erhöht, der Preis für Benzin eingefroren, Steuerfreibeträge wurden angehoben bzw. Steuerzahlungen von abhängig Beschäftigten mit Niedriglöhnen für September und Oktober gleich ganz erlassen, informell Beschäftigte erhielten eine Extra-Zahlung von 1000 Pesos (~20 Euro) pro Kind, ebenfalls für September und Oktober, Staatsbedienstete erhielten eine einmalige Sonderzahlung von 5.000 Pesos (kein Schelm, wer darin Bestechungsversuche im Vorfeld der Wahlen erkennt, was aber hier niemanden zu stören schien, weil das immer so läuft – die Peronisten machen das schließlich seit Jahrzehnten ähnlich; früher gab’s von Perón mal sidra (Apfelwein) und pan dulce (eine Art Stollen) – lang ist’s her).

Too little, too late. Zwar konnte Macri mit diesen Wohltaten den Abstand von unmöglichen 16% bei den Vorwahlen im August auf weniger als 8% gestern verkürzen – aber zum Erreichen der Stichwahl hatten Fernández-Fernández dann einfach doch zu viele eigene Stimmen. Bei 45% liegt die magische Grenze, wer die bei der Abstimmung überspringt wird automatisch im ersten Wahlgang Präsident. Für einen kurzen Moment dachte ich gestern noch, es könnte doch in die Stichwahl gehen, weil ich die Grenze bei 50% vermutete.

Ausblick auf die Wirtschaft von Morgen

Was uns da demnächst von der neuen Regierung bevorsteht lässt sich bisher nur erahnen, Gewissheiten gibt es keine. Wahrscheinlich wird die erste Woche aus dem Abräumen eines Großteils der Wahlversprechen bestehen, weil die dank der katastrophalen Lage, in der Macri Argentinien hinterlässt, einfach nicht bezahlbar sind.

Ansonsten hat die Zentralbank unter Macris Mannen aber schon mal vorgearbeitet. Bereits seit den Vorwahlen gab es wieder eine Beschränkung der Dollarkäufe pro Person auf maximal 10.000 Dollar pro Person und Monat. Der Dollarkurs rauschte dennoch auf immer neue Höchststände, insbesondere in der vergangenen Woche, und das, obwohl die Zentralbank mit Verkäufen in Milliardenhöhe versuchte, den Peso zu stützen. Nach dem Wahlsieg von Fernández gestern Nacht wurde die Höchstgrenze nochmal deutlich verschärft – auf nur noch 200 Dollar pro Person und Monat. Das hat am offiziellen Devisenmarkt erstmal für Entspannung und fallende Dollarkurse gesorgt – wer konnte, hat wahrscheinlich schon letzte Woche gekauft und darf jetzt erstmal nicht mehr. Der informelle „blaue“ Dollar allerdings liegt inzwischen wieder 20% über dem offiziellen Kurs.

Die Beschränkung ist für mich besonders ärgerlich, denn gleichzeitig hat die Zentralbank Anfang September eine Regelung erlassen, die es Exporteuren und Auslandsarbeitern wie mir nicht mehr erlaubt, meine Honorare einigermaßen sicher auf einem deutschen Bankkonto zu deponieren und dann je nach Bedarf zum jeweils aktuellen Wechselkurs ins Land zu bringen. Seither muss ich sämtliche Honorarzahlungen in voller Höhe binnen fünf Tagen ins nationale Währungssystem transferieren. Heißt: auf ein Pesokonto überweisen. Die Devisen behält die Zentralbank. Und nun kann ich sie nicht mal mehr wenigstens in Dollar zurücktauschen, um der galoppierenden Inflation zumindest in Teilen zu entgehen. So viel Dirigismus war nicht mal unter Königin Cristina.

Die Begrenzung des Umtauschs auf 200 Dollar ist vorerst befristet bis die neue Regierung im Amt ist, aber ich befürchte, diese Regelung gefällt auch den Planwirtschaftlern um Capitán Beto. Ebenso wie die Pesifizierung meiner Auslandshonorare. Ich habe wenig Hoffnung, dass diese Regelungen zurückgeschraubt werden.

Ungewohntes muss weg

Ebenso unverständlich wie die Wahl des Präsidenten ist mir die Wahl des Provinzgouverneurs hier in Buenos Aires. Zwar war der Wahlgewinn durch Macris Parteifreundin Maria Eugenia Vidal in 2015 eine große Überraschung (und trug zu großen Teilen zu seinem Wahlsieg bei), aber ich fand, sie hat alles in allem hier keinen schlechten Job gemacht. Straßenkilometer beispielsweise kosteten plötzlich nur noch 50-80% dessen, was vorher üblich war (auch wenn die Zahlen nicht ganz vergleichbar sind). Auch die Mordrate in der Provinz ging deutlich zurück, ebenso nahm sie den Kampf auf gegen Korruption im Polizeidienst. Die Wähler gestern besannen sich aber eines „Besseren“ und wählten ausgerechnet Cristinas alten Wirtschaftsminister, Axel Kicillof, zum neuen Gouverneur. Den Mann, der angeblich deutsch lernte, um Marx im Original zu lesen. Den Mann, der als Wirtschaftsminister nicht sagen mochte, wie hoch die Armutsquote im Land ist, weil er schon die Messung der Armut als stigmatisierend empfand. Und der für den jahrelangen Inflations-Betrug beim nationalen Statistikamt Indec mit verantwortlich war.

Alles egal, alles vergessen. Hauptsache wieder ein Peronist, Hauptsache nicht mehr Heidi (boshafter Spitzname der Opposition für die manchmal etwas naiv wirkende Vidal). Die wird demnächst wieder zu ihren Eltern ziehen, sich einen Job suchen und nach Mister Right Ausschau halten, nachdem die Ehe mit dem Vater ihrer drei Kinder in die Binsen ging. Bisher lebte sie wegen Morddrohungen unter strengem Schutz auf einem Militärgelände und vorgesorgt mit einem politischen Posten für den Fall des Verlusts des Gouverneurs-Mandats hat sie nicht. Erstaunlich in der hiesigen Kultur des eine-Hand-wäscht-die-andere. Genauso erstaunlich: ihr Privatvermögen hat sich während der Gouverneurszeit nicht vergrößert, jedenfalls nicht über den Gegenwert des Verkaufs des gemeinsamen Hauses aus ihrer Ehe hinaus. Vom aktuellen Vermögen kann sie sich nicht mal den Kauf eines neuen Hauses oder auch nur einer Wohnung leisten. In einem Land, in dem alle politischen Würdenträger eigentlich Jahr für Jahr eine eidesstattliche Erklärung über ihr Vermögen abgeben müssen und man zusehen kann, wie diese Vermögen trotz hoher Inflation von Jahr zu Jahr wachsen –  unerklärlicherweise, die meisten – ist sie vielleicht wirklich ein bisschen die naive Heidi. Wie sehr ich das vermissen werde.

Was mach ich hier eigentlich?

Ich habe das Leben in Argentinien vor 12 Jahren gewählt, als Nestor Kirchner noch an der Macht war, als es aussah als ob seine Frau als Nachfolgerin im Präsidentenamt eine moderatere Variante seiner selbst sein und die Welt wieder mit Argentinien versöhnen würde, als die Steuereinnahmen aus dem Verkauf von teuren Agrarprodukten auf dem Weltmarkt nur so sprudelten und es vielen Argentiniern schon fünf Jahre nach einer massiven Wirtschaftskrise wieder deutlich besser ging. In den folgenden acht Jahren konnte Cristina sich allerdings nur dank der ständig laufenden Druckerpresse der Zentralbank und hoher Subventionen von Grundbedürfnissen wie Wasser, Strom und Gas an der Macht halten, bis ihr steigende Inflation und die Ermüdung des Wahlvolks mit dem relato, der Regierungsversion, wie es die Dinge zu sehen habe, politisch das Genick brachen. Wenn Cristina gekonnt hätte, hätte wohl auch sie internationale Kredite aufgenommen wie nun Macri nach ihr. Der hoffte, allein damit die Inflation in den Griff zu bekommen, dass er nicht mehr so viele Pesos drucken ließ. Der aber offenbar nicht mit der Lust der Argentinier an der Selbstzerstörung rechnete, als Milliarden von Dollar einfach unter den Matratzen der Sparer verschwanden, ohne die von ihm erhoffte Investitionswelle auszulösen. Und der auch aus dem Ausland im Stich gelassen wurde, von Fonds, die gerne hochverzinsliche argentinische Staatsanleihen kauften, solange das Risiko ihnen berechenbar schien, die aber genauso schnell ihre Gelder abzogen, als der Wind sich drehte und das Land auf einem hohen Schuldenberg und mit exorbitant hoher Inflation sitzen ließen, ebenfalls ohne einen Peso in die langfristige Entwicklung zu investieren.

Hat Macri das Land also runtergewirtschaftet? Nicht nur. Zum Beispiel gibt es endlich – ENDLICH! – Projekte zur intensiveren Nutzung von Erneuerbaren Energieträgern (Beispiel 1, Beispiel 2). Der Nordwesten Argentiniens hat mit die höchste Sonneneinstrahlung irgendwo auf dem Planeten, von 365 Tagen sind 330 sonnig. Patagonien hingegen ist das Eldorado der Windkraft. Nirgendwo an Land bläst der Wind so kräftig und so stetig wie dort. Von 9 MW installierter Windkapazität in 2015 wuchs der Anlagenpark auf 500 MW in 2018. Immer noch lächerlich im Vergleich zu 113.000 MW in Deutschland, aber immerhin. Genauso entwickelte ein Team im Umweltministerium einen tollen „Plan A“ zur nachhaltigen Entwicklung Argentiniens, in dem regionale Besonderheiten wie hohe Feuchtigkeit beispielsweise als Standortfaktoren für den Anbau von teuren Speise-Pilzen ausgemacht wurden (den Plan kann ich im Netz nicht mehr finden, aber wer ihn haben will, kann ihn von mir kriegen; hab ihn aber nur auf Englisch). Aber alle tollen Infrastrukturprojekte helfen nichts, wenn die Bevölkerung nichts zu Beißen hat. „Wir sind Menschen, wir essen keine Ziegelsteine“, bellte eine Bewohnerin eines Elendsviertels der Hauptstadt einem Interviewer eines Macri-freundlichen Senders vor einigen Monaten ins Mikrofon, als der es wagte, nach den Verbesserungen zu fragen, die unübersehbar durch staatlich finanzierte Wohnungsbauten im Elendsviertel vor sich gingen. Voller Einkaufswagen schlägt neue Wohnung, so einfach kann Wirtschaft sein.

Aber noch etwas ist bemerkenswert. Wenn nicht noch etwas sehr Unvorhergesehenes geschieht, wird Macri seine Präsidentschaft zum 10. Dezember ordnungsgemäß beenden. Damit wäre er der erste nicht-peronistische Präsident seit Marcelo T. de Alvear 1928! Das hat vielleicht heute noch keine Bedeutung, möglicherweise aber in den Geschichtsbüchern von morgen.

An Capitán Beto wird es jetzt liegen, aus den Fehlern der Vergangenheit – denen von Cristina und denen von Macri – zu lernen und das Land wieder in ruhigere Fahrwasser zu bringen. Einfach wird das nicht. Und je nachdem welchen Kurs der neue Kapitän jetzt einschlägt muss ich mich langsam wirklich fragen, ob ich mich 2007 nicht vielleicht verwählt habe.

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Politische Pfannkuchen

Moin allerseits. Lange keine Einträge mehr von mir, was vor allem daran lag, dass ich es leid war, mich an dieser Stelle immer nur zu beschweren. Und Gründe dafür gäbe es reichlich, zumindest aus Sicht der Argentinier. Das letzte Jahr haben wir mit einer Rekordinflation von 45% abgeschlossen, höher als selbst zu den schlimmsten Zeiten der Königin und dieses Jahr werden es womöglich über 50%. Gleichzeitig sind die Schulden gegenüber ausländischen Geldgebern massiv angewachsen und der Umtauschkurs des Peso drastisch gefallen. Aktuell liegt er bei ungefähr 1:50 gegenüber dem Euro. Noch vor 14 Monaten lag er bei 1:20. Danke, Macri. So aus Sicht des Europäers.

Aber bald ist Zahltag, pardon, Wahltag, dann werden wir sehen, ob die Argentinier lieber wieder zurück zur korrupten Clique um Cristina wollen, weil die ja wenigstens von ihren Raubzügen auch was an die Armen abgegeben habe. Oder ob sie Macris eher orthodoxen Wirtschaftskurs mitgehen, bei dem sehr langsam und zaghaft ein paar Lichter am Horizont sichtbar werden. Energieimporte von Öl und Gas zum Beispiel sind drastisch gefallen, seit das Öl- und Gasfeld „Vaca Muerta“ (Tote Kuh) besser erschlossen wird und dort per Fracking fossile Brennstoffe aus der Erde gepresst werden. Das ist gut für die strapazierte Staatskasse, schlägt sich jedoch in den Taschen der Bevölkerung eher negativ nieder, weil die jetzt Weltmarktpreise zahlen sollen. In Neuquén sind allerdings deswegen viele gut bezahlte Jobs entstanden – leider mitten im Nirgendwo. Und zu hohen Umweltkosten. Auch die Nachricht vom Abschluss eines Handelsabkommens des Mercosur mit der EU dürfte nur einen Teil der Wählerschaft mit freudiger Erwartung erfüllen, insbesondere die, die dank großen Landbesitzes und ausgedehnter Sojaplantagen oder riesiger Rinderherden davon am meisten profitieren werden. Andererseits haben nämlich dieses Jahr bis Mai fast 100.000 Menschen ihren Job verloren. Und da reden wir nur über den formalen Sektor, also maximal die Hälfte der Beschäftigten.

Sie ist wieder da

Ja, Cristina ist wieder da, trotz aller Korruptionsverfahren. In dreizehn war sie bereits angeklagt. In einem Verfahren, in dem es um einen Präsidentenstab ging, der dem Nationalmuseum abhanden gekommen ist und bei einer Durchsuchung vermeintlich in Cristinas Privathaus gefunden wurde, wurde sie vor einigen Tagen freigesprochen, weil es sich nicht um jenen vermissten Stab handelte (die werden hier für jeden Präsidenten eigens angefertigt, nicht an den nächsten Mandatsträger weitergegeben, deshalb gibt’s da mehrere von). In drei Fällen wurde wegen Verdunkelungs- und Fluchtgefahr aber sogar Haft angeordnet. Sie ist nur in Freiheit, weil der Senat sich weigert, ihre Immunität aufzuheben. Für sie (ähnlich wie für Mandatsträger in anderen Teilen der Welt) alles eine politische Hexenjagd. Ihre Tochter, die ebenfalls als Teil des Familienclans unter Anklage steht und kein Amt als Abgeordnete (und damit Immunität) hat wie Sohnemann Máximo, hat sie vorsichtshalber nach Kuba gebracht – aus Gesundheitsgründen, wie es offiziell heißt. Sie schildert ihre Sicht der Dinge in einer weiteren Autobiografie unter dem Titel Sinceramente – Ehrlich – (ausgerechnet) und ging damit auf Lesereise in Stadiengröße.

Cristinas Buch 'Sinceramente'

Cristinas Buch ‚Sinceramente‘

Bücher veröffentlichen ist international ja ein gutes Zeichen, dass jemand nochmal was werden will. Und dann trat sie am 18. Mai tatsächlich offiziell wieder an – allerdings zur Überraschung aller nur als Kandidatin zur Vizepräsidentin. Um sich für die zu erwartende Wahlschlacht in Stellung zu bringen, hat sie in ihrem Lager nach einem Präsidentschafts-Kandidaten gesucht, der ihr negatives Image ein bisschen aufbessern kann und der nicht so viele Korruptionsaffären am Hacken hat. Sie alleine hätte in einer Stichwahl wahrscheinlich keine guten Chancen. Und sie hat ihren Kandidaten gefunden – ausgerechnet in Alberto Fernandez.

Der war schon vieles in der argentinischen Politik, zuletzt ihr eigener Kabinettschef und davor bereits der von Nestor. Er schied aber 2008 im Streit um das Gesetz 125, das für höhere Steuerabgaben der Sojaexporteure sorgen sollte und damals die Bauern monatelang auf die Straßen trieb. Danach meldete er sich noch gelegentlich in den Medien und verlor dort selten ein gutes Wort über seine ehemalige Chefin. In erster Linie unterrichtete er aber als Dozent für Staatsrecht an verschiedenen Universitäten im In- und Ausland. Von Cristina wurde er als „Verräter“ geschmäht, der 2007 ihre Präsidentschafts-Kandidatur versucht habe zu vereiteln und sich später zum Sprachrohr der verhassten Mediengruppe Clarín gemacht habe. Auch andere Kirchneristen wie der Ex-Staatssekretär im Wirtschaftsministerium, Guillermo Moreno, ließen kein gutes Haar an Fernandez – selbst noch nach seiner Nominierung zum Spitzenkandidaten.

Fernandez warf der Königin im Gegenzug vor zu fabulieren und Tatsachen zu verdrehen, damit diese in ihr duales Weltbild passten. Er persönlich habe sie schließlich 2008 von einem Rücktritt abhalten müssen, nachdem die Senatsabstimmung über Gesetz 125 von ihrem Vizepräsidenten Cobos gegen sie entschieden worden war. Nach dem Tod ihres Mannes warf er ihr vor, dessen gesamtes politisches Erbe über Bord geworfen und damit dem Kirchnerismus den Todesstoß versetzt zu haben. Er bezeichnete sie als die größte politische Enttäuschung seines Lebens, warf ihr vor, den Bezug zur Realität verloren und die peronistische Partei in einen Haufen von Ja-Sagern verwandelt zu haben. Nicht zuletzt habe sie durch einen Pakt mit dem Iran die wahren Schuldigen für das Attentat auf das jüdische Kulturzentrum AMIA im Jahr 1994 decken wollen und dies später versucht, zu vertuschen.

Und nun ist er ihr Präsidentschaftskandidat und lässt sich als „Capitán Beto“ feiern, eine Anlehnung an einen Song der Band Invisible von 1976, in der ein einfacher Busfahrer aus Buenos Aires zum Astronauten wird. Sie habe sich geändert, sagt er jetzt milde. Die ganzen Anschuldigungen wegen Korruption seien alle falsch. Sie könne zwar abgehoben und hochnäsig sein, aber sie sei keine Diebin. Um Macri abzulösen und das Land wieder auf einen Wachstumspfad zu führen sei die Vereinigung des größten Teils der peronistischen Partei nötig gewesen. Cristina wiederum spricht so gut wie nicht über ihn (sie spricht überhaupt wenig, außer auf ihren Buchlesungen). Lediglich in der Ankündigung ihres Wahlbündnisses erwähnte sie beiläufig, dass man in der Vergangenheit „Differenzen“ gehabt habe. Ihren heroischen Akt des Verzichts auf die Präsidentschaftskandidatur, um ihrem geliebten Land in Zukunft an der Stelle zu dienen, an der sie am nützlichsten sei, würdigte sie mit deutlich mehr Worten. Abgesehen davon verbreitet sie in ihrem Ankündigungs-Video auch eine Reihe von Unwahrheiten, wie die, dass es Argentinien noch nie so schlecht gegangen sei, wie derzeit, noch nie so viele Menschen auf der Straße schlafen mussten, noch nie so viele ohne Arbeit waren, etc. Wer des Spanischen mächtig ist und den Magen dafür hat, kann sich das Video ja mal reinziehen:

Für solche Arten von politischen Wendehälsen wie Alberto Fernandez – die hier im Übrigen viel häufiger sind als in Deutschland – gibt es die Bezeichnung panqueque (Pfannkuchen). Ihre Protagonisten werden – nicht ganz ernst gemeint – der politischen Strömung des Panquequismo zugerechnet. Wie im Duo die Rollen verteilt sind dürfte klar sein: Cristina hat die Hosen an. Allein die Tatsache, dass die Kandidatin für die Vizepräsidentschaft den Präsidentschaftskandidaten ankündigt und nicht er selbst seine Bewerbung um den Posten bekannt macht, spricht für mich Bände. In einem populären Comedy-Programm im Fernsehen wird er konsequent als Marionette dargestellt und in Internet-Foren und auf Twitter wird schon gemutmaßt, nach einer möglichen Wahl zum Präsidenten müsse er sehr gut auf seine Gesundheit und Sicherheit achten, weil Cristina ihm nach dem Leben trachten werde. Ihre Feinde trauen ihr wahrhaft alles zu.

Bombe. Und dann noch eine.

Die Nachricht schlug natürlich ein. Cristina als Zugpferd für immer noch ein treu ergebenes Drittel der Wählerschaft nur als Vize, ein vermeintlich kühlerer Kopf an der Spitze – damit könnte man Wahlen gewinnen. Dachten auch die Händler an den Börsen und verkauften. Die Zinsen für die Argentinischen Staatsanleihen stiegen in den zwei Wochen nach der Ankündigung auf 1008 Basispunkte, der Peso verharrte auf einem Tiefststand von ca. 2,2 Dollar-Cents. Die Wahlumfragen sagten dem neuen Bündnis Frente para Todos (Front für Alle) gute Chancen voraus, die Wahlen im Oktober zu gewinnen. Cristina schien einen Weg gefunden zu haben, wieder irgendwie an die Macht zu kommen, und das machte viele hier, vor allem aber im Ausland nervös. Die Financial Times warnte vor der „Rückkehr der peronistischen Politik nach Argentinien„, die New York Times analysierte, das sei ein starker Aufschlag der Ex-Präsidentin, der geeignet sei, die moderatere Wählerschaft, die mit den wirtschaftlichen Bedingungen nicht zufrieden seien, auf ihre Seite zu bringen. Mit ihr als Spitze wäre das unwahrscheinlich gewesen.

Macri, der glücklose, ungeschickte Technokrat, der er ist, hatte dem erst mal nichts entgegen zu setzen. Nicht, dass nicht seine Fürsprecher sofort ans Werk gingen, das Duo Fernandez-Fernandez madig zu machen. Das hinderte deren Bundesgenossen jedoch nicht daran, in fünf von sieben Provinzen die Gouverneurswahlen im Mai und Juni teilweise mit deutlichem Vorsprung  zu gewinnen. Auch die Umfragen für die Präsidentschaftswahl sahen F&F teilweise weit in Führung, so weit, dass sogar ein Sieg in der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen möglich schien. Dazu sind 40% plus X und ein Mindestabstand auf Nummer zwei von 10% erforderlich.

Dann aber zauberte Macri am 11.6. seinen Vize-Kandidaten aus dem Hut. Und auch der ist ein Überraschungskandidat – nämlich der Peronist Miguel Ángel Pichetto, der jahrelang als Sprecher seiner Fraktion im Senat Nestors und Cristinas Politik durchdrückte. Noch davor war er schon im Abgeordnetenhaus auch Menems treuer Diener. Heute lächelt er das mit dem Verweis auf Parteidisziplin weg. Wenn man in der Regierung sei, müsse man eben zusammenhalten, auch wenn einem manche Pläne nicht gefielen. Tatsächlich hat er sich 2017 vom Block der Kirchneristen im Senat gelöst und seither als gesprächsbereiter Sprecher der traditionellen Peronisten in den vergangenen Jahren auch dafür gesorgt, dass Macri überhaupt regieren konnte. Er ist also kein Betonkopf. Aber er persönlich hat eben im letzten Jahr und erneut in diesem auch verhindert, dass Cristinas Immunität als Senatorin aufgehoben wird, damit sie vor Gericht gestellt werden kann, weil sie dann automatisch in den Knast gewandert wäre, was er für unverhältnismäßig hält.

Eine Aufhebung der Immunität komme erst infrage, wenn Cristina rechtskräftig verurteilt sei, sagte Pichetto noch im Dezember und schwor seine ganze Partei auf diese Linie ein. Niemand, den man sich ohne weiteres als Alliierten von Macri vorstellen kann – und noch weniger als seinen Vize.

Ein weiterer Panqueque?

Nicht ganz, denn weder Macri noch Pichetto haben sich in der Vergangenheit derart mit Schmutz überzogen wie Cristina und Alberto F. Macri und Pichetto formalisieren daher ein Zweckbündnis, das sie schon vor einer Weile eingegangen sind. Ob dieses von Dauer sein wird ist sehr die Frage. Und es ist fraglich, ob die Zugkraft von Pichetto ausreichen wird, um Macri unter den traditionellen Peronisten genügend Stimmen zu verschaffen, um es wenigstens in die zweite Runde zu schaffen. Denn es ist noch ein weiterer ehemaliger Alliierter in Cristinas Reihen zurückgekehrt, nachdem er in den vergangenen Monaten immer wieder betont hatte, er werde gegen sie antreten: Sergio Massa.

Der wollte eigentlich einen dritten Weg begründen mit den eher traditionellen Peronisten als Hausmacht. Auch Pichetto und etliche Provinzgouverneure hatten sich bereits diesem Weg verschrieben. Als jedoch Cristina einen moderaten Peronisten zum Spitzenkandidat ausrief und Pichetto zu Macri überlief, muss Massa klar geworden sein, dass er wieder keine Chance hat, Präsident zu werden. Und schloss sich der seiner Meinung nach stärkeren Gruppe wieder an: Fernandez & Fernandez. Für die ist er jetzt Spitzenkandidat im Unterhaus und wird einige weitere Stimmen mitbringen. So schließen die Peronisten weitgehend die Reihen.

Inzwischen hat Macri in den Umfragen etwas aufgeholt, während Capitán Beto offenbar auf der Stelle tritt. Etliche Auftritte, bei denen er fragende Journalisten abkanzelte, so betreibe man keinen Journalismus, dürften ihm bei unentschiedenen Wählern keinen Bonus eingebracht haben. Sie erinnern zu sehr an den aggressiven Stil der ehemaligen Königin, die im Amt jahrelang überhaupt nur mit wohlgesonnenen Journalisten Gespräche führte und ansonsten von der Lügenpresse faselte. Auch die wirtschaftspolitischen Vorstellungen und Versprechen von Capitán Beto mögen bei eher einfach gestrickten Gemütern verfangen, nachdenklichere Zeitgenossen werden sich fragen, woher das ganze Geld kommen soll, dass er der Bevölkerung verspricht.

Perón, Perón…

Was mich immer wieder erstaunt in diesem Land ist der Widerhall des Namens Perón. Selbst 45 Jahre nach seinem Tod (1.7.1974) kann man ohne ihn in Argentinien ganz offensichtlich keine Wahlen gewinnen. Vielleicht sogar weniger als früher, weil immer weniger den ganzen Mist erlebt haben, den Perón nämlich auch verzapft hat. 1983 gewann Raúl Alfonsín, weil damals selbst viele Peronisten offenbar die Schnauze von den Wahlkampfmätzchen ihrer Protagonisten voll hatten, die wieder auf Division und Gewalt hinausliefen, wie sie schon die 1970er geprägt hatten: der Kandidat für den Gouverneurs-Posten in Buenos Aires, Herminio Iglesias, hatte auf der abschließenden Wahlkampfveranstaltung der Peronisten einen Sarg mit den Insignien der Unión Cívica Radical, der Partei Alfonsins, in Brand gesteckt. Bereits in den 1970ern waren die Bombenattentate und Entführungen von untereinander verfeindeten peronistischen Gruppierungen mit ein Grund, warum ein Teil der Bevölkerung die Machtübernahme durch die Militärs 1976 und die anschließende „Befriedung“ durch Beseitigung der Störenfriede anfangs (und in Teilen bis heute) gut hieß.

Aber schon während Alfonsins Amtszeit wurde ihm von den peronistischen Gewerkschaften durch 13 Generalstreiks und andere Maßnahmen die Arbeit erschwert. Auch andere nicht-peronistische Präsidenten haben die Macht der Gewerkschaften weit deutlicher gespürt als die peronistischen:

Grafik: Generalstreiks pro Präsident seit 1983

Man beachte insbesondere die nur zweijährige Amtszeit des vor kurzem verstorbenen De la Rua – gegen über 10 Jahre von Vorgänger Menem. Auch Macri hat schon nach dreieinhalb Jahren die Zahl der Streiks von Cristina nach acht Jahren erreicht. Und da kann bis zum Ende der Amtszeit noch der eine oder andere Streik hinzukommen. Der Oktober kurz vor der Wahl wird dafür immer wieder gern genommen. Aktuell machen insbesondere die Gewerkschaften des Transportgewerbes viel Tamtam. Piloten der Aerolineas Argentinas haben sich in den Wahlkampf eingeschaltet – zugunsten von Alberto und Cristina. Sie verlasen im Flieger Pamphlete gegen Macri und verlangten Gehaltsverhandlungen. Demnächst wollen sie ihre Forderungen nur noch als Papierversion verteilen, weil es wohl Proteste von aufgebrachten Fluggästen gab.

Trotz allem sieht es so aus, als würde Macri seine Amtszeit bis Dezember durchhalten. Und das ist keine kleine Sache. Seit 1928 (!) gab es keinen nicht-peronistischen Präsidenten mehr, der sein Mandat regulär beendet hätte. Daran haben selbstverständlich vor allem die hiesigen Militärs einen großen Anteil, die von den 1930ern bis in die 1970er alle paar Jahre einen Putsch orchestriert haben. In den letzten dreißig Jahren geht das allerdings ausschließlich auf das Konto der Peronisten und ihrer verbundenen Gruppierungen. Und sie tun aktuell wieder alles, damit die Serie sich fortsetzt. Ich hoffe, sie erreichen damit genau das, was Iglesias 1983 bewirkt hat. Und schießen Capitán Beto ins All.

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